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er sie noch besonders, sie dürfte es niemand sagen, sonst käm'' 
er um sein Leben. Das versprach sie auch. 
Als er aber zur Arbeit sich gesetzt hatte, ging sie zur 
Gevatterin und erzählte es der, wenn sie's feinem Menschen 
wieder sagen wollte. Ehe aber drei Tage vergingen, wußte 
es die ganze Stadt, und der Schneider kam vor Gericht, 
und er ward hingerichtet. So brachte es doch die klare 
Sonne an den Tag. 
13. Der Schutzengel. 
Im Gebirge wohnte eine arme Witwe, die von mancher 
Sorge für sich und ihren Knaben, Wilhelm, bedrängt ward. 
Aber der Knabe war ein lustiger Knabe, sah fröhlich in den 
Tag hinein und wußte wenig von der Not der Mutter; 
denn die Mutter trug ihre Leiden still und mit Geduld. 
Aber als der Knabe eines Abends heim kam, lag seine Mutter 
krank auf dem Bette. Da ward sein heiteres Auge trüb 
von Thränen.und.er setzte sich zu ihr an das Bett und faßte 
ihre Hand, brückte sie an sein Herz und weinte. Und er 
blieb an ihrem Bette sitzen die ganze Nacht, legte ihr oft 
das Kopfkissen zurecht und holte auch manchmal einen Trunk 
frisches Wasser, daß sie sich lechzenden Lippen labe. 
Aber die Nacht verging, und als der Morgen kam, war die 
Mutter noch nicht gesund und fing an bitterlich zu weinen. 
Und der Knabe fragte: „Mutter, warum weinest du?" Da 
sprach die Mutter: „Sonst, als ich noch gesund war, konnte 
ich dir doch Morgens eine Suppe kochen; ich wollte gern die 
Schmerzen leiden und sterben, aber daß du darunter leiden 
mußt, schmerzt mich am meisten." -f- Da konnte er sich nicht 
mehr halten und lief hinaus, knieete unter d^e Linde, die 
vor der Hausthüre stand, und die Thränen stürzten ihm aus 
den Augen, und er weinte sehr und rief: „Ach, wenn Mut¬ 
ter stirbt, dann bin ich ganz verlassen! Will ja gerne ster¬ 
ben, wenn nur Mutter leben bleibt, und nicht mehr weint, 
denn sie ist so lieb und gut. Ach, Gott! Mutter ist krank, 
mach' doch Mutter wieder gesund." — So betete das Kind. 
Da trat ihm ein feiner Knabe entgegen, mit blauen Angen, 
krausen Locken und goldglänzenden Flügeln. Und der fremde 
Knabe trug ein silbernes Körbchen und rief mit holdseliger 
Stimme und sprach: „Komm, laß uns Beeren pflücken für 
deine kranke Mutter, sie wachsen dort gleich am Wäldchen." 
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