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23. Kindesliebe.
Ein Fürst traf auf einem Spazierritt einen fleifsigen
und frohen Landmann bei dem Ackergeschäft an und
liess sich mit ihm in ein Gespräch ein. Nach einigen
Fragen erfuhr er, dass der Acker nicht sein Eigentum
sei, sondern dass er als Tagelöhner um 25 Kreuzer ar¬
beite. Der Fürst konnte in der Geschwindigkeit nicht
ausrechnen, wie es möglich sei, täglich mit 25 Kreuzern
auszureichen, und noch so frohen Mutes dabei zu sein
und wunderte sich darüber. Aber der brave Mann im
Zwillichrocke erwiederte ihm: „Ich wäre übel daran,
wenn ich so viel brauchte. Mir muss ein Drittel davon
genügen. Mit dem zweiten Drittel zahl' ich meine
Schulden ab, und das letzte Drittel lege ich auf Kapita¬
lien an.“ Das war dem guten Fürsten ein neues Rätsel.
Aber der fröhliche Landmann fuhr fort und sagte: „Ich
teile meinen Verdienst mit meinen Eltern, die nicht mehr
arbeiten können und mit meinen Kindern, die erst lernen
müssen. Jenen vergelte ich die Liebe, welche sie
mir in meiner Kindheit erwiesen haben, und von diesen
hoffe ich, dass sie mich einst in meinem müden Alter
auch nicht verlassen werden.“ — War das nicht schön
gesagt und noch schöner gedacht und gehandelt? Der
Fürst belohnte die Kindesliebe des wackern Mannes,
sorgte für seine Söhne, und der Segen, den ihm seine
sterbenden Eltern gaben, wurde ihm im Alter von seinen
dankbaren Kindern durch Unterstützung und Liebe reich¬
lich entrichtet.
24. Die Mnmenlefe.
§. 1. Die zarte, unschuldige Therese hatte, so lauge der
Mai währte, das Bett hüten müssen. Als sie nun genas
und wieder Kräfte gewann, redete sie von den Blumen und
fragte, ob sie auch so schön blühten, wie im vorigen Jahre.
Denn sie liebte die Blumen sehr, konnte aber nicht hinaus¬
gehen, um solche zu pflücken.
§. 2. Da nahm Erich, der Bruder des kranken Mäd¬
chens, ein Körbchen und sagte heimlich zur Mutter: „Ich
will ihr die schönsten des Feldes bringen!" Und so ging er
zum ersten Male hinaus in das Gefilde. Denn so lange