Die soziale Fürsorge im Deutschen Reiche.
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211. Die soziale Fürsorge im Deutschen Reiche.
„27? Millionen Mark tägliche Unterstützung an die Arbeiter!" las
Meister Lahme nach der Abendmahlzeit halblaut aus der Zeitung vor. Ge¬
sellen und Lehrlinge horchten erstaunt auf, und Richard, ein Nesse des Meisters,
der bei ihm das Schlosserhandwerk erlernte, fragte den Oheim: „Wer gibt
denn die?" „Der Staat"! antwortete der Meister und weidete sich an den
erstaunten Mienen der Aufhorchenden. „Ja, der Staat, das soviel geschmähte
Deutsche Reich!" fügte er mit Betonung hinzu, als er in das zweifelnde
Gesicht des Gesellen Franz blickte, der stets über die Abgaben nörgelte, die
er an den Staat zu entrichten hatte. „Das ist der Segen, der heute bereits
aus der Arbeiter-Versicherungsgesetzgebuug des Deutschen Reiches
fließt. Dazu kommen noch die Summen, die das Versicherungsgesetz für
Angestellte bringt." „Für den Einzelnen kommen immerhin nur geringe
Beträge dabei heraus," warf Franz ein. — „Sie müssen nicht vergessen,"
erwiderte der Meister, „daß es nicht die Aufgabe des Staates sein kann,
den Arbeitern alle Sorgen und Mühen für ihr Fortkommen abzunehmen.
Das würde eines Mannes unwürdig sein, die Steuerlast der Bürger bis zur
Unerträglichkeit steigern und unsere einheimische Industrie durch die immer
mehr sich steigernden Geschäftsunkosten unfähig machen, mit der aus¬
ländischen den Wettbewerb mit Erfolg aufzunehmen. Nein, der Zweck der
Versicherungsgesetze kann und darf nur darin bestehen, dem durch Krankheit,
Alter oder Unfall in Not geratenen Arbeiter oder seinen im Falle seines
Todes Hinterbliebenen durch eine Unterstützung eine wennauch bescheidene
Lebenshaltung zu ermöglichen. Wie beschämend war es bisher für einen
alten oder arbeitsunfähigen Arbeiter, von der Gnade mildtätiger Menschen
leben zu müssen, wie demütigend, wenn ihm infolge der erhaltenen Armen-
Unterstützungen seine staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen zur Gemeinde-,
Landes- und Reichsvertretung genommen wurden! Nein, ich bleibe dabei, die
Vtrsicherungsgesetze sind mit ihrer Fürsorge für die wirtschaftlich Schwachen
ein Werk hoher Staatsweisheit und geeignet, die Klassengegensätze zu
mildern und das Vertrauen in die Staatsregierung zu
stärken." „Mag sein," erwiderte Franz, „aber sie müssen doch zugeben,
daß wir die Mittel dazu zum größten Teile selbst aufbringen." „Zum größten
Teile wohl nicht, wenn sie bedenken, daß die Arbeiter in der Krankenver¬
sicherung zwar 2/3 der Beiträge, in der Invaliden- und Hinter-
bliebenenversicherung jedoch nur die Hälfte und in der Unfallver¬
sicherung garnichts bezahlen," entgegnete der Meister. „Ich finde hier in
der Zeitung eine Zusammenstellung aus dem Jahre 1909. In diesem Jahre
wurten von den Versicherten 342,1 Millionen Mark eingezahlt, von den
Arbeitgebern dagegen 413,4 Millionen und von dem Reich 50,5 Million« u