Full text: Lesebuch für Oberklassen

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99. Tagedieb und Siebenschläfer. 
Der Tagedieb und der Siebenschläfer wohnten einander 
gegenüber. Als der Tagedieb einst wieder sein erstes Pfeifchen 
geraucht und den fleißigen Leuten zugesehen hatte, wie sie an die 
Arbeit gingen, da kam auch der Siebenschläfer ans Fenster. 
Er streckte den Kopf mit einer gewaltigen Schlafmütze heraus 
und gähnte. Der Tagedieb rief ihm sogleich hinüber: „Guten 
Morgen, Herr Nachbar! Ausgeschlafen?" Und der Siebenschläfer 
gähnte noch einmal und entgegnete: „Nicht so recht. Die Kinder 
haben mich geweckt, als sie zur Schule gingen. Gäbe es doch 
keine Schule mehr; denn sie macht nur Störung im Dorfe!" 
Der Tagedieb gab ihm recht und fügte noch hinzu: „Ich bin auch 
nie gern in die Schule gegangen. Sie ist eigentlich nur da, um 
die Leute zu plagen. Ich bin übrigens groß geworden, ohne viel 
gelernt zu haben, und wenn ich am Biertisch sitze, kann ich so gut 
das Wort führen wie nur einer." — „Das ist wahr, Herr Nach¬ 
bar", erwiderte der Siebenschläfer, „ich war auch lieber im Bett 
als in der Schule. Aber heutzutage läßt man den Kindern gar 
keine Ruhe mehr und straft sogar die Eltern, wenn die Kinder 
die Schule versäumen. Ich weiß nicht, was daraus noch werden 
mag." 
Nachdem die zwei so gesprochen hatten, klopfte der Gerichts¬ 
vollzieher bei dem Tagedieb an und rief: „Machen Sie auf; hier 
ist ein Zahlbefehl für Sie!" Der Tagedieb erschrak und lief mit 
dem Zahlbefehl schnell zu seinem Nachbar, mit welchem er eben 
erst jene Unterredung geführt hatte. „Nachbar," rief er, „um 
Gotteswillen helfen Sie mir; ich muß ja sonst von Haus und Hof!" 
Der Siebenschläfer kratzte sich hinter den Ohren, gähnte noch 
einmal und stammelte: „Ja, helfen! Das wollte ich gern, aber 
ich kann nicht. Das Geld ist so rar, und wenn ich meine, ich hätte 
ein paar Mark, so sind sie auch schon wieder fort. Wenn es nicht 
so weit wäre, ich ginge selbst nach Amerika." Als der Tagedieb 
von Amerika hörte, fiel ihm ein, dahin könne er am Ende auch 
gehen, und er redete dem Nachbar zu, zusammen auszuwandern. 
Er meinte, in Amerika brauche man nicht zu arbeiten und habe 
doch satt zu essen, und der Siebenschläfer glaubte, dort könne 
man viel schlafen und werde doch fertig. 
Sie zogen daher beide nach Amerika, nachdem sie noch vorher 
ihre Habseligkeiten veräußert hatten. In Amerika aber wurde 
ihnen bedeutet: „Hier können wir keinen Tagedieb und keinen
	        
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