Full text: Lesebuch für Oberklassen

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„Recht so", sprach der Müller; „aber wenn du so ein Rätsel¬ 
meister bist, so gib jetzt jedem am Tische auch ein Rätsel auf, und 
wer das seine nicht errät, muß dir ein Stück von seinem Abend¬ 
brote geben!" Da sing der Knabe beim Knechte an und sprach: 
„Ein weißes Täublein federlos flog auf ein Bäumlein blätterlos; 
da kam ein Sperber schnabellos und fraß das Täubchen federlos." 
Zur Magd sprach der Knabe: „Ich kenne den besten Koch; 
dennoch dingte ihn kein Herrscher noch. Er kochet alles ohne Würze 
aufs beste und in größter Kürze. Er nahm noch niemals einen 
Lohn und diente doch dem Esau schon." 
Zur Müllerin sprach der Knabe: „Wie heißt die große, ferne 
Stadt, die viele Tausende von Lampen hat? Ihre Straße glänzt 
im Sonnenschein, doch sie führt zu keinem Tor hinein, und einem 
erst gelang es ehemals nur, daß er hinein mit Roß und Wagen 
fuhr." 
Und zu dem Müller sprach der Knabe: „Wie heißt das Saat¬ 
korn, das der Barmherzige in eine Hand breit mageren Grundes 
sät, das, wenn es auch noch so klein ist, hoch auf zum Himmel 
sprießt und dem Barmherzigen zur Zeit der Ernte goldene Ähren 
trägt?" 
Als der Knabe bei allen herum war, sah einer den andern 
an und sprach: „Ich weiß das meine noch nicht", und einer nach 
dem andern gab das Raten auf uud schenkte dem Knaben ein 
Stück von seinem Abendbrote. Der Müller und die Müllerin 
lächelten gegeneinander; denn sie verstanden ihre Rätsel. Da¬ 
nach sprach der Müller zu dem Knaben: „Du hast deine Sache 
gut gemacht, und wenn du brav sein und arbeiten magst, so will 
ich mich deiner annehmen." Und der Knabe blieb von der Stunde 
an beim Müller, und er wuchs zu einem rechtschaffenen Manne 
heran. 
114. Wie Friedrich der Große sich einmal 
necken ließ. 
Der König Friedrich der Große arbeitete oft anhaltend bis 
spät in die Nacht hinein. Einst saß er noch an seinem Pulte, 
als die Mitternachtsstunde schon geschlagen hatte. Da trat sein 
Kammerdiener Heise in das Zimmer. Dieser stand bei Friedrich 
in großer Gunst und konnte sich schon erlauben, was ein anderer 
nicht wagen durfte. Er erinnerte den König, daß es schon 
spät und Zeit zur Ruhe sei. Der König sagte: «Ich habe da 
eine wichtige Arbeit vor, die keinen Aufschub leidet. Wenn ich
	        
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