Full text: Thüringisches Lesebuch für die oberen Klassen der Volksschulen

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helle Tageslicht zu ertragen; sein Blick ist starr, er kann 
nicht weinen; erstaunt, seinen Blatz wechseln zu können, 
bleiben seine Füsse unwillkürlich eben so unbeweglich, als 
seineZunge. Endlich geht er durch die fürchterlichePforte. 
Als er in dem Wagensass, welcher ihn in seine alte 
Wohnungzurückbringen sollte, stiesser ein uuartikulirtes 
Geschrei aus; er vermochte die ungewöhnliche Bewegung 
nicht zu ertragen, und mau musste ihn aussteigen lassen. 
Von dem Arm eines Mitleidigen geführt, fragte er nach 
der Strasse, wo er wohnte; er kommt an; sein Haus ist 
nicht mehr da; ein öffentliches Gebäude steht an dessen 
Stelle; er erkennt weder die Strassen noch die Stadt,noch 
die Gegenstände, die er einst dort gesehen hatte. Die 
Wohnungen seiner Nachbarn, die er sich noch zu ver¬ 
gegenwärtigen wusste, hatten eine neue Gestalt angenom¬ 
men. Vergebens fragtenseine Blicke nach allen bekannten 
Gestalten; er sieht nicht eine einzige, von welcher er 
die geringste Erinnerung hatte. 
Erschreckt steht er still und stösst einen tiefen 
Seufzer aus. Mag die Stadt von lebenden Wesen be¬ 
völkert sein, für ihn ist es ein todtes Volk; er kennt 
Keinen, Keiner kennt ihn. Er weint und sehnt sich 
nach seinem Kerker zurück. 
Bei dem Namen der Bastille, die er anruft und wie 
ein Asyl (Zufluchtsort) verlangt, bei dem Anblick seiner 
Kleider, welche einem andern Jahrhundert angehörten, 
sammelt sich eine Schaar von Menschen um ihn. Die 
Neugierde, das Mitleiden dräugensich um ihn; die ältesten 
Männer richten Fragen an ihn und haben keinen Begriff 
von den Ereignissen, die er zurückruft. Man führt ihm 
durch Zufall einen alten Bedienten zu, dessen Kniee zit¬ 
terten, und der, seit fünfzehn Jahren an die Thür seines 
gegenwärtigen Herrn gebannt, kaum noch dieKraft übrig 
hatte, das Schloss an der Hausthür zu öffnen. Er er¬ 
kennt den Herrn nicht mehr, dem er gedient hat; aber 
er sagt ihm, dass seine Frau seit dreissig Jahren vor Kum¬ 
mer und Elend gestorben, dass seine Kinder in unbekannte 
Zonen fortgezogen und alle seine Freunde nicht mehr 
vorhanden sind. Er macht diese grausame Erzählung mit 
jener kalten Gleichgültigkeit, welche man für längst 
vergangene und fast vergessene Ereignisse zeigt. 
Der Unglückliche seufzt und seufzt allein. In dem 
zahlreichen Haufen, der aus Nichts als aus fremden Ge¬ 
sichtern besteht, fühlt er das ganze Gewicht seines Un-
	        
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