Full text: Hohenzollerisches Lesebuch für katholische Volksschulen

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110. Gegenseitige Hilfeleistung. 
(Joach. Heinr. Campe.) 
Albert ging einmal mit seinem Vater aus, und sie kamen 
an einen Bau, der schon bis zum zweiten Stockwerk fertig war. 
Albert sah, wie die Maurer auf den Sprossen einer Leiter saßen 
und einander über die Schulter Steine zulangten. Das gefiel ihm. 
„0, lieber Vater“, rief er, „laß uns da näher hinzugehen !u — 
Der Vater ging näher mit ihm hinzu, und sie sahen ein Weilchen 
zu, wie der unten stehende die Steine aufnahm, sie dem auf der 
ersten Stufe zureichte, dieser wieder dem nächsten, und der wieder 
dem folgenden, und wie das immer so rasch fortging, bis die 
Steine oben waren und vermauert wurden. 
„Was meinst du, Albert,“ sagte der Vater, „warum sitzen 
alle diese Leute hier und langen einander zu ? Und warum arbeiten 
so viele an diesem Hause? Könnte nicht einer daran arbeiten, 
und die andern indes auch Häuser bauen oder sonst etwas tun?“ — 
„Jawohl, Vater,“ antwortete Albert geschwind, „da würden recht 
viele Häuser fertig werden.“ — Der Vater erwiderte : „Sollte es 
wohl so sein, mein Sohn? Hast du auch bedacht, was du so 
eben sagtest ? Wie viele Künste und Handwerke gehören nicht 
zu einem Bau, wie dieser, die der eine alle lernen müßte, der ihn 
unternehmen wollte, so viele, daß er sein ganzes Leben hindurch 
zu lernen hätte, ehe er dahinkäme, ein solches Haus bauen zu 
können. Aber laß uns einmal glauben, daß einer das alles in 
so kurzer Zeit lernen könnte; laß ihn nun allein, ohne Hilfe, 
anfangen zu bauen; laß ihn alles Holz, alle Steine und alles 
übrige, was zum Bau gehört, zusammenschleppen, dann die Erde 
tief aufgraben und den Grund legen, dann auf diesem Grunde 
fortbauen. Wenn er das erste Stockwerk vollendet hat, laß ihn 
aufsteigen und das zweite anfangen; laß ihn nach jedem Steine 
die Leiter herunter- und wieder hinaufsteigen; laß ihn so fort 
allein arbeiten: wann, meinst du wohl,' daß d as Haus unters Dach 
kommen werde ?u 
„Ach, lieber Vater,“ sagte der Knabe, „ich sehe, wie sehr 
ich mich geirrt habe. Auf diese Weise würde nie ein Haus, wie 
dieses, zu stände kommen.“ 
„Du hast recht, mein Sohn,“ fuhr der Vater fort; „und wie 
es mit diesem Bau ist, so ist es mit allen Geschäften des gesitteten 
menschlichen Lebens. Sollen sie von statten gehen, so müssen 
vereinte Kräfte und Geschicklichkeiten angewandt werden. Wenn 
ihrer viele einander die Hand bieten, so kommen große und 
schwere Dinge zu stände, die einer in vielen Jahren, ja in Jahr¬ 
hunderten, wenn er sie durchlebte, nicht ausrichten könnte. So, 
mein Sohn, ist es auch mit den Bequemlichkeiten und Ver¬ 
gnügungen des Lebens. Sollten wir sie uns selbst verschaffen,
	        
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