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lieh, aber als sie eine Strecke Wegs zurückgelegt hatten, wurde er
dreist und hatte große Lust am Fliegen. Am Mittag schien die Sonne
sehr heiß, und Dädalus warnte seinen jungen Sohn, daß er sich vor
der Sonne hüten und ihr nicht zu nahe fliegen sollte. Aber Ikarus
dachte: „Die Sonne sieht so freundlich und wird mir nichts Böses
tun.“ Und er flog höher und höher. Dädalus flog voran und sah
es nicht. Da kamen die heißen Sonnenstrahlen, und die Flügel des
Knaben fingen an zu schmelzen. Als Ikarus fühlte, daß die Flügel¬
schläge matter wurden, rief er nach seinem Vater, und Dädalus
wandte sich um und wollte ihm zu Hilfe kommen. Aber es war zu
spät, der Knabe konnte sich nicht mehr in der Luft halten und fiel
vor des Vaters Augen ins Meer. Von dem hohen Falle starb er,
und mit seinem Leichnam spielten die Wellen. Da hatte Dädalus
von seiner großen Kunst keinen Gewinn und mußte traurig allein
weiterfliegen. C. Witt.
232. Zweikampf des Hektor und Ajax.
1. Einst nahte dem kämpfenden Hektor sein Bruder Helenus, der
kundige Seher, und forderte ihn auf, einen einzelnen Krieger aus
dem Heere der Achäer herauszurufen, um mit ihm allein einen ent¬
scheidenden Zweikampf zu kämpfen. Denn ihm hätten, sagte er, die
Götter es eingegeben, daß heute dem Hektor das Todeslos noch
nicht verhängt sei. Sogleich rannte der Held laut rufend hervor,
gebot Stillstand und trat in die Mitte. Da ruhten sie alle, begierig,
seine Kede zu hören. Er sprach darauf mit starker Stimme: „Hört
mich, ihr Achäer! Sind doch unter euch der streitbaren Helden so
viele; wohlan, ich überlass’ es euch selbst, sendet den Tapfersten
heraus, mit mir zu kämpfen. Erlegt er mich, so mag er mir die
kostbare Küstung rauben; aber den Leichnam entsend’ er nach Ilios,
daß die troischen Männer und Frauen meine Gebeine verbrennen
und die Asche dann sammeln. Gewähren mir aber die Götter Ruhm,
daß ich jenen treffe, so häng’ ich seine Rüstung als stolze Beute
zum Andenken im Tempel des Phöbus Apollo auf; ihr aber möget
dem Toten dort bei den Schiffen ein würdiges Denkmal errichten,
daß der Enkel noch einst, wenn er, zum Hellesponte segelnd, bei
dem hohen Gestade vorüberschifft, sage: ,Das ist das hochragende
Grabmal des tapferen Helden, den Hektor im entscheidenden Kampfe
erschlug/“
2. Also sprach er, und im Lager der Griechen ward’s still. Jeder
bedachte sich und wartete auf des anderen Erbieten: denn mit Hektor
zu kämpfen, war ein gefahrvolles Wagstück. Da sprang, nicht im
Gefühl seiner Stärke, sondern vom rasch aufwallenden Ehrgefühl