Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

Z. Jáatt der Grosze. 
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5. Karl der Große. 
Pipin der Kleine, der im Einverständnis mit dem Papste dem letzten 
Sprößling des verkommenen Herrschergeschlechts der Franken die Locken 
geschoren und ihn in ein Kloster gesandt, dann aber selbst den Thron des 
mächtigen Reiches bestiegen hatte, stammte nicht aus einem edlere Geschlechte, 
sondern von freien Bauern aus der Gegend des Niederrheins. Er trug kurzes. 
Haar, wie die anderen Franken, und über dem glatten Kinn den fränkischen 
Lippenbart. Als König aber waltete er mit großer Kraft; er erweiterte die 
Grenzen seines Reiches und dämpfte den Übermut der Longobarden, eines deutschen 
Stammes, der sich im nördlichen Italien niedergelassen hatte; das ihnen entrissene 
Land schenkte er dem Papste, zu dessen weltlicher Gewalt er dadurch den Grund- 
legte.. Bei seinem Tode im Jahre 768 hinterließ er den nördlichen Teil seines 
Reiches seinem Sohne Karl, den südlichen aber dem Bruder desselben, Karl¬ 
mann. Als dieser jedoch schon nach drei Jahren plötzlich starb, nahm Karl 
das ganze Frankenland in Besitz, indem seine beiden noch unmündigen Neffen 
als unfähig zur Nachfolge betrachtet wurden. 
Schon in seinem Äußern zeigte sich die Majestät des Herrschers. Er 
maß fast 2 Meter, sein Kopf hatte einen mächtigen Umfang. In jeder Waffen- 
kunst vollkommen durchgebildet, war er jedem im Volke an Stärke überlegen; 
auch im Schwimmen und ähnlichen Fertigkeiten kam ihm niemand gleich. Seine 
Kraft dauerte bis ins hohe Alter, denn er übte sie täglich und lebte durchaus 
mäßig. Seine Haltung war kriegerisch und ehrfnrchterweckend; wo er einher¬ 
schritt, klopften die Herzen. Auf seiner breiten, klaren Stirn lag Weisheit und 
Hoheit; vor dem feurigen und durchdringenden Blick seines großen Auges mußte 
jeder das seinige niederschlagen. Seine Tracht war gewöhnlich einfach und krie¬ 
gerisch, der Hauptbestandteil derselben ein Wams von Otternfell; nur bei feier¬ 
lichen Anlässen trug er einen goldnen, kurzen Rock mit Gürtel, über den Bein¬ 
kleidern und Strümpfen bunte Kreuzbänder, die Schuhe mit Edelsteinen geziert, 
den Mantel gewöhnlich weiß oder grün. — Aber gewaltiger als durch sein 
Äußeres war er durch die Kraft seines Geistes. Er war keine stürmische 
Natur, die leidenschaftlich und maßlos das Höchste begehrte; hart vielmehr und 
dauerhaft wie ein Eichstamm, wuchs er während des wildesten Kriegstreibens 
ruhig fort, bedächtig, nachdenklich, bei großem Thun von unerschütterlichem Willen. 
Fehlschlag und Niederlage entmutigten ihn nicht, aber auch der größte Erfolg 
berauschte ihu nicht, in der härtesten Arbeit blieb sein Geist klar und gesammelt, 
mitten im Kampf um ein hohes Ziel sann er auf neue, oft ganz andersartige 
Schöpfungen. Wie kein anderer deutscher Fürst besaß er ein Gemüt, welches 
klar und ruhig die Bilder der Außenwelt auffaßte und erwog, einen klugen 
Erfindungsgeist, der sie zweckmäßig zu verwenden wußte, und einen eisernen 
Willen, der schnell seinen Entschluß faßte und gerade auf sein Ziel losging. 
Mit diesen Eigenschaften gelang es ihm, zum ersten Male die spröden, 
«-auf ihre Selbständigkeit eifersüchtigen deutschen Stämme zu einem ungeheuren 
Reiche zusammenzufassen. Zunächst vernichtete er das Longobardenreich im 
nördlichen Italien, dessen König den Papst bedrohte, und ließ sich selbst als 
König der Longobarden huldigen. Dann aber wandte er sich gegen die heidni¬ 
schen Stämme der Sachsen im Norden Deutschlands, welche zwar nicht unter^
	        
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