219. Die treue Gudrun
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starke König Herwig aus Niederland kam, verweigerten auch ihm die
Eltern ihre Tochter; aber da rückte er mit einem grossen Heere vor
Hettels Burg und bewies täglich durch kühne Thaten, dass er ein
echter Held sei. Das gefiel dem König Hettel wohl, und als nun auch
Gudrun bat, um ihretwillen nicht mehr Blut zu vergiessen, so ward
Versöhnung gestiftet, und die stolzen Eltern gestatteten endlich die
Verlobung ihrer Tochter mit dem wackeren Herwig.
2. Wie Gudrun entführt ward.
Diese Kunde entflammte die beiden verschmäheten Könige zum hef¬
tigsten Zorn. Siegfried von Moorland fiel verwüstend in Herwigs Reich
ein, und Hettel musste mit allen seinen Mannen diesem zu Hilfe eilen.
Aber während so die Friesenburg von Verteidigern fast ganz entblöfst
war, benutzte der Normanne Hartmut schlau die günstige Gelegenheit.
Seine böse Mutter Gerlinde, die über die stolze Zurückweisung ihres
Sohnes grollte, hatte täglich ihn und seinen Vater Ludwig zur Rache
getrieben: jetzt erschien er plötzlich mit einer mächtigen Flotte vor
Hildens wehrlosem Schlosse, um die schöne Gudrun mit Gewalt zu
entführen. Zuerst zwar suchte er durch Schmeichelei und Drohungen
die Jungfrau zu bewegen, dass sie ihm in die Normandie folgte; als
aber Gudrun immerfort bei dem Worte blieb: „Durch feste Eide gehöre
ich als Braut dem König Herwig“, da stürmte Hartmut die Burg, ver¬
brannte sie und entführte Gudrun mit zweiundsechzig Frauen.
So erlebte denn die stolze, schöne Hilde ein ähnliches Schicksal,
als sie es einst ihren Eltern bereitet hatte. Sie sandte Boten an ihren
Gemahl in Herwigs Land, um ihm das schwere Unglück zu melden
und ihn zur Verfolgung der Räuber aufzufordern. Sogleich schlossen
Hettel und Herwig jetzt Frieden mit dem bedrängten Siegfried, und
alle drei Könige vereinigten sich, zu Schiffe den flüchtigen Normannen
nachzusetzen. Aber in ihrer Hast versäumten sie, den Toten die letzte
Ehre zu erweisen: statt die'Leichen der Gefallenen fromm zu begraben,
warfen sie dieselben rasch ins Meer, um sich ihrer nur zu entledigen,
und begaben sich dann auf die Verfolgung. Diese Übereilung sollte
ihnen teuer zu stehen kommen.
3. Wie sie auf dem Wülpensande kämpften.
Die Normannen waren indessen auf ihrer Rückfahrt an eine wüste
und einsame Insel der Nordsee, den Wülpensand, gekommen, und da
es ihnen nicht einfiel, dass sie von den Friesen noch eingeholt werden
könnten, so beschlossen sie, hier sich einige Tage von den Anstren¬
gungen der Seereise auszuruhen. Aber plötzlich erschienen die sie ver¬
folgenden Könige. Ein grimmiger Kampf erhob sich um die Landung:
die Friesen sprangen bis an die Achsel ins Wasser, um das Ufer zu
gewinnen, aber vom Lande her flogen die Pfeile so dicht, als wenn
Schneeflocken vom Sturme getrieben werden, und das Wasser rötete