22. Der Wolf und da- Lämmlein.
X22. Der Wolf und das Lämmlein.
^ (Fabel.)
l^in Wolf und ein Lämmlein kamen von ungefähr au eilten Bach, um zu
trinken; der Wolf trank oben am Bache, das Lämmlein aber unten. Da der
Wolf das Lämmlein erblickte, lief er zu ihm und sprach: „Warum trübst du
mir das Wasser, daß ich nicht trinken kann?" Das Lämmlein antwortete:
„Wie kaun ich dir das Wasser trüben? trinkst du doch über mir!" — Der
Wolf sprach: „Was fluchest du mir noch dazu?" Das Lämmlein antwortete:
„Ich fluche dir sa nicht!" — Der Wolf aber sprach weiter: „Ja, vor sechs
Wochen hast du auch Böses von mir geredet!" Das Lämmlein antwortete:
„Vor sechs Wochen war ich noch gar nicht geboren!" — Wieder schrie der
Wolf: „Du hast aber meine Wiesen und Felder abgenagt und verderbt!" Datz
Lämmlein antwortete: „Wie ist das möglich? Ich habe ja noch gar keine
Zähne!" — „Ei", sprach der Wolf, „du weißt ja eine ganze Menge Aus¬
reden; doch dies alles macht dich nicht straflos, du kannst nicht ungefressen
bleiben!" Also würgte er das unschuldige Lamm und fraß es. Äsop.
Zwei
1. Zm Felde sucht's der Kriegerstand,
um Lorbeern zu erringen:
im Frieden weiß des Mädchens Hand
aus Blumen es zu schlingen;
dort trabt es durch der Wüste Sand
und hebt umsonst die Schwingen.
Rätsel.
2. Ich weiß ein bunt bemaltes Haus,
ein Tier mit Hörnern schaut heraus;
das nimmt bei jedem Schritt und Tritt
sein Häuslein auf dem Rücken mit;
doch rührt man an die Hörner sein,
zieht's langsam sich ins Haus hinein.
24. I)6i' Fuchs und der Rahe.
(Fabel.)
Ein Rabe hatte einen Käse gestohlen und setzte sich auf einen
Baum, tun ihn hier zu verzehren. Dies bemerkte ein Fuchs, schlich
hinzu und sprach: „0 Rahe, du bist doch ein schöner Yogel! Dein
Gefieder glänzt wie die Federn des Adlers. Ist deine Stimme auch
so schön, dann bist du der schönste Yogel der Welt.“ Den Raben
kitzelte dieses Lob, und er fing an zu schreien. Als er aber den
Schnabel öffnete, entfiel ihm der Käse. Der Fuchs sprang hinzu,
schnappte ihfi. auf, verschlang ihn und lachte den thörichten Raben aus.
Ich mag nicht lügen!
Ein Knabe hatte ein kleines Beil zum Spielwerk bekommen. Daran
hatte er seine grosse Freude und hieb damit, wie es eben traf; und
es traf manchmal dahin, wo es nicht gut war. Wie der Kleine mit
dem Beil auf der Schulter auch in den Garten kam, sagte er: „Nun
will ich ein tüchtiger Holzhauer sein!“ Und er hieb seines Yaters
schönstes Kirschbäumchen ab.
Den andern Tag kam der Yater in den Garten, und als er das
schöne Bäumchen welk am Boden liegen sah, wurde er betrübt und