Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mittleren und oberen Klassen evangelischer Volksschulen

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mit Fleiss bewachen, damit ihnen nicht etwas gefalle, was meiner 
Seligkeit schaden könnte, die zwei Hasen sind meine Füsse, die 
muss ich zurückhalten, dass sie nicht nach schädlichem Gewinn lau¬ 
fen und auf den Wegen der Sünde wandeln, die zwei Sperber sind 
meine Hände,'die muss ich zur Arbeit abrichten und anhalten, der 
Lindwurm ist meine Zunge, die muss ich beständig im Zaume halten, 
der Löwe ist meine Herz, mit dem muss ich beständig im Kampfe 
liegen, der Kranke ist mein eigener Leib, der sich bald heiss, bald 
kalt, bald hungrig, bald durstig, bald gesund, bald krank, kurz immer 
in einem Zustande befindet, der meine Aufmerksamkeit und Pflege 
fordert. Das alles macht mich müde tagtäglich.“ — Der Vorgesetzte 
lobte ihn und sprach: „Wollte Gott, dass wir alle auf diese Weise 
wachen, arbeiten, kämpfen und dämpfen wollten, — wir würden 
unsere Seligkeit besser schaffen.“ Caspari. 
155» Hamet und Raschid. 
Eine brennende Dürre verheerte schon lange die Gefilde Indiens als 
zwei Hirten, Hamet und Raschid, sich auf der Grenze ihrer Felder begeg¬ 
neten. Sie starben beinahe vor Durst und sahen ihre Herden gleichfalls 
verschmachten. Sie hoben die Angen gen Himmel und flehten ihn um 
Hilfe; siehe da entstand auf einmal eine tiefe Stille: die Vogel hörten auf 
zu singen; das Blöken und Brüllen der Herden verstummte, und die bei¬ 
den Hirten sahen im Thäte eine erhabene, überirdische Menschengestalt sich 
ihnen nähern. Es war der hohe Geist der Erde, der Glück und Unglück 
den Sterblichen austheilet; in der einen Hand hielt er die Garbe des 
Überflusses, und in der andern die Sichel der Verwüstung. Sie zitterten 
vor Schrecken und suchten sich zu verbergen; aber der Geist rief ihnen mit 
so sanfter Stimme zu, wie der Zephyr lispelt, wenn er siä) abends ans 
den wohlriechenden Gesträuchen Arabiens wiegt. „Nahet euch," sprach er, 
„Söhne des Staubes; fliehet euren Wohlthäter nicht! Ich bin gekommen, 
euch ein Geschenk anzubieten, das nur durch eure Thorheit unnütz und ver¬ 
derblich werden kann. Ich will euer Gebet erfüllen und euch Wasser geben, 
wenn ihr mir sagt, wie viel ihr zu eurer Befriedigung bedürft. Übereilt 
euch aber nicht in eurer Antwort! Bedenkt, daß in allen menschlichen Be¬ 
dürfnissen das Übermaß eben so schädlich ist, als der Mangel. Erkläret 
euch; und du, Hamet, rede zuerst!" 
„O gütiger Geist!" antwortete Hamet, „wenn du meiner Kühnheit 
verzeihen willst, so bitte ich um einen kleinen Bach, der im Sommer nicht 
vertrocknet und im Winter nicht überschwemmt." „Du sollst ihn ha¬ 
ben," antwortete der Geist und schlug mit seiner Sichel, die jetzt ein Werk¬ 
zeug der Wohlthätigkeit wurde, den Boden. Die beiden Hirten sahen zu 
ihren Füßen eine Quelle hervorsprudeln und sich über die Felder des 
Hamet verbreiten. Die Blumen hauchten einen frischeren Wohlgernch; die 
Bäume schmückten sich mit grünerem Laube, und die Herden löschten in 
dem kühlen Strome ihren Durst. 
Jetzt wendete sich der Geist zu dem zweiten Hirten und gebot ihm zu 
reden. „Ich bitte dich," sprach Raschid, „du wollest den großen Ganges 
mit allen seinen Wassern und Fischen durch meine Felder leiten." Der 
gutherzige Hamet bewunderte den mutigen Stolz des Raschid und zankte
	        
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