Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mittleren und oberen Klassen evangelischer Volksschulen

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Sonne ging über den Zorn der beiden Männer nnter, und den Tag darauf 
wurden sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurtheilt, den todt¬ 
gebissenen Mordap mit einem Reichsthalcr zu büßen. Der Bäcker mußte 
für den zertrümmerten Fensterflügel nicht viel weniger bezahlen und sich 
mit seinem Widerpart in die angelaufenen Sporteln theilen. 
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft be¬ 
festigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein freundliches Wort 
mehr. Ging die Gerberin ihren Weg links zur Kirche, so nahm die Nach- 
barin ihren Weg rechts. Saß der Bäcker im Posthause in der Stube beim 
Bier, so nahm der Gerber seinen Platz im Kabinet. Für die Kinder des 
Gerbers gaben weder der Osterhase, noch der gute Märtel, noch das heilige 
Kind durch die Frau Patin mehr etwas ab. 
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten, setzten 
sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, um ihren 
Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade herauszog, war 
kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben ihr auf 
den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich: „Mutter, einen 
Groschen! ich hole das Brot." Dann sagte er zum Vater: „Heute aber 
laufe ich nicht lange herum, und wenn es beim Thorbücker kein Brot gibt, 
geh ich wieder einmal zu dem Herrn Paten hinüber." Der Gerber sagte 
nicht ja und nicht nein darauf und ließ den Knaben ziehen. Im ersten 
Brotladen hatten aber die Wecken schon lange ihre Käufer gefunden, und 
Helm kam wieder zum Thore herein, laut singend, daß es die ganze Gasse 
hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten! heut' geh' ich zum Herrn 
Paten!" Ungehalten über den argen Schreihals, wollte sein Vater ihm 
wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster aufbringen konnte, war 
der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und — kehrte nach einigen 
Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. Statt des Oelzweiges hatte 
er einen geschenkten Eierring in der Hand und rief, über die Schwelle in 
die Stube hineinstolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater und Mutter schön 
grüßen, und ich soll bald wiederkommen!" 
Noch an demselben Abend wechselten die Nachbarsleute einige freund¬ 
liche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die weiße und die gelbe 
Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; am dritten zeigten die 
Weiber einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren oft 
mit Thränen über den unseligen Zwist den Faden genetzt hatten. — Und 
es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt hatte; denn 
einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell in ein Nerven¬ 
fieber und ans diesem, nach wenigen lichten Augenblicken in den Todes¬ 
schlummer. Gott gebe ihm eine fröhliche Auferstehung! Stöber. 
68. Christoph Kollheim. 
Wie mancher hat schon gesagt: „Was mich nicht brennt, das 
blase ich nichU" und ist vorüber gegangen, wo er hätte helfen sollen. 
Das ist so ein Sprüchlein, womit sich die Geizigen, Hartherzigen und an¬ 
dere Leute dieser Art beruhigen, wenn der Geist nicht willig und das Fleisch 
schwach ist. So dachten auch der Priester und Levit, als sie den Armen 
in seinem Blute liegen ließen und sich ans dem Staube machten. Dachte 
auch der Samariter so? Dachte auch der brave Christoph Kollheim in einem
	        
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