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IL Das Zeitalter der unumschränkten Fürstenmacht und
des europäischen Gleichgewichts.
1) Die Zeit Ludwig's XIY,
1 r, cf V ?4, Charakter des Zeitraums. Seit der zweiten Hälfte des
17. ^ahrh. trat eine allgemeine Verbindung und Wechselwirkung der europäischen
Staaten ein. Ein jeder Staat wollte den andern gegenüber ein selbständiger und
gesicherter sein, und wie ein solches Streben der Staaten nach Gleichgewicht
nicht ohne vorangegangenen Kampf erreicht werden kann; wie jeder Staat auch
durch die That den Beweis ablegen muss, dass er einer Selbständigkeit fähig ist:
so sehen wir fast ein halbes Jahrhundert hindurch die Staaten im gegenseitigen
Kampfe nach dem allgemein erstrebten Ziele ringen. Es macht also in diesem Zeit-
re^9™se Richtung der politischen Platz. Vergegenwärtigen wir uns die
politische Stellung, welche die Völker Europa's am Schlüsse des vergangenen Zeit-
raums einnahmen, so werden wir leicht herausfinden, ans welche Weise ein jeder
Staat sein politisches Ansehn in diesem Zeiträume hervortreten lassen wird.
Frankreich, Deutschland, Spanien und die Türkei kämpsen gegenseitig um Ver-
größerung ihrer äußeren Macht. Holland und England, als die beiden Haupt-
Handelsstaaten, ringen, von Handelsneid getrieben, um die Herrschaft im Handels-
leben; Russland, Schweden, Dänemark und Polen fahren, wenn sie einen Kampf
eingehen, in der fchon von ihnen verfolgten Richtung der Vergrößerung ihrer äußeren
Macht ^ fort. Merkwürdig ist es, dass Frankreich mit schlauer und geübter Staats-
kunst sich in die Angelegenheiten sämtlicher europäischer Staaten. mischt und dadurch
das Ubergewicht erringt. Die Freiheit Europa's gerät in Gefahr und wird durch
die während der Kämpfe herangereifte Staatskunst der Engländer verteidigt und
gerettet. Daun aber werden sich die Völker ihrer Rechte immer mehr bewusst;
es wird öffentlich ausgesprochen, dass kein Staat die Unabhängigkeit und die Rechte
eines andern verletzen, dass keine Obergewalt, auch nur dem Namen nach, über
andere Staaten geduldet werden darf; kleinere Staaten sollen in ihrer Selbständig-
keit von größeren geschützt werden. — Dieses Gleichgewichts-System wurde in
der That beobachtet, konnte aber in seiner Strenge nicht durchgeführt werden.
Kleinere Staaten, welche nach Vergrößerung ihrer Macht trachteten, wurden von
größeren aus selbstsüchtigen Zwecken unterstützt; in der zweiten Hälfte des 18ten
Jahrhunderts verletzten sogar die Hauptstaaten Europa's das von ihnen ausgestellte
Grundgesetz und gerieten mit einander in Kampf.
§• 95. Ludwig XTV. Unter dem ehrgeizigen und herrschsüchtigen Lud-
w ig XTV. (1643—1714) gelangte Frankreich zum entschiedensten Übergewicht über
die andern Staaten, erlag aber zugleich den Fesseln des unumschränktesten Despo¬
tismus. Es ragte in jeder Richtung der Kultur hervor; denn es hatte das Glück,
an Männern reich zu sein, die, wie Colbert die Staatsverwaltung, wie Tu-
renne, Cond«, Luxembourg u. a. die Kriegführung, wie Louvois,
Vauban u. a. das Kriegswesen, wie Pascal, Bofsuet, Fenelon, Cor-
neille, Racine, Moltere, Lafontaine, Boileau, Rousseau, Mon¬
tesquieu, Voltaire n. a. Künste und Wissenschaften ausbildeten. Der König
befolgte Mazarin's Regierungsgrundsätze, stellte aber nach dem Rücktritt dieses
Staatsmannes keinen Premierminister mehr an (l'etat c'est moi). Ein luxus¬
reicher Hof begründete eine ganz Europa beherrschende Modesucht und entsittlichte
das Volk. In Ludwig selbst spiegelte sich wie in keinem früheren Könige der