131 
Wir nahmen freundschaftlich Abschied, und fröhlich stieg ich den 
Berg hinauf. Bald empfieng mich eine Waldung himmelhoher 
Tannen, für die ich, in jeder Hinsicht, Respekt habe. Diesen Bäu¬ 
men ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden, 
und sie haben es sich in der Jugend sauer werden laßen. Der 
Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersäet und die 
meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken 
oder sprengen und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung 
schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein 
Thor bildend, über einander, und oben darauf stehen die Bäume, 
die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend, und erst am 
Fuße derselben den Boden ersaßend, so daß sie in der freien Luft 
zu wachsen scheinen. Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen 
Höhe empor geschwungen und, mit den umklammerten Steinen 
wie zusammengewachsen, stehen sie fester als ihre bequemen Kollegen 
rm zahmen Forstboden des flachen Landes. So stehen auch im 
Leben jene großen Männer, die durch das Ueberwinden früher Hem¬ 
mungen und Hinderniffe sich erst recht gestärkt und befestigt haben. 
Auf den Zweigen der Tannen kletterten Eichhörnchen und unter 
denselben spazierten die gelben Hirsche. Wenn ich solch ein liebes, 
edles Thier sehe, so kann ich nicht begreifen, wie gebildete Leute 
Vergnügen daran finden, es zu hetzen und zu tödten. Solch ein 
Thier war barmherziger als die Menschen und säugte den schmach¬ 
tenden Schmerzenreich der heilige« Genovefa. 
Allerliebst schoßen die goldenen Sonnenlichter durch das dichte 
Tannengrün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln. 
Ueberall schwellende Moosbänke; denn die Steine sind fußhoch von 
den schönsten Moosarten, wie mit hellgrünen Sammetpolstern, be¬ 
wachsen. Liebliche Kühle und träumerisches Quellengemurniel. Hier 
und da sieht man, wie das Wasser unter den Steinen silberhell 
hinrieselt und die nackten Baumwurzeln und Fasern bespült. Wenn 
man sich nach diesem Treiben hinabbeugt, so belauscht man gleich¬ 
sam die geheime Bildungsgeschichte der Pflanzen und das ruhige 
Herzklopfen des Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser- 
aus den Steinen und Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Kas¬ 
kaden. Da läßt sich gut sitzen. Es murmelt und rauscht so 
wunderbar, die Vögel singen abgebrochene Sehnsuchtslaute, die 
Bäume flistern wie mit tausend Mädchenzungen, wie mit tausend 
Mädchenaugen schauen uns an die seltsamen Bergblumen, sie 
strecken nach uns aus die wunderbar breiten, drollig gezackten 
Blätter, spielend flimmern hin und her die lustigen Sonnen- 
stralen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich grüne Märchen,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.