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der vom Gerüst gestürzt sei. Von Mitleid bewegt, ging er sogleich mit zum Krankenhause.
Hier sprach er dem Verunglückten Mut und Trost zu und gab ihm das Versprechen, für
seine Familie bis zu seiner Wiederherstellung sorgen zu wollen. Schon am andern Morgen
erschien er wieder im Krankenhause und erkundigte sich nach dem Befinden des Kranken.
Die Familie desselben versorgte er bis zur Genesung des Vaters aufs reichlichste.
4. Erkrankung. Von jeher war Friedrich der Liebling des deutschen Volkes.
Doch auf Erden ist kein Glück vollkommen. Schon zu Anfang des Jahres 1887
stellte sich ein Halsleiden bei ihm ein, das keine Kunst der Ärzte zu beseitigen ver¬
mochte. Vergebens suchte er Heilung in der milden Luft Italiens.
5. Thronbesteigung. Am 9. März traf ihn die erschütternde Nachricht vom
Tode seines Vaters. Nun hielt es ihn nicht länger vom Vaterlande fern. Er ent¬
schloß sich sofort zur Heimkehr. Die Ärzte baten ihn dringend, die Reise noch aufzu¬
schieben; er aber sagte: „Und wenn ich unterwegs sterben müßte, ich kehre doch zu¬
rück." — Mit unermüdlichem Eifer erledigte der Kaiser trotz seiner Schwäche die
eingehenden Regierungsgeschäfte, und wie sein erhabener Vater selbst auf dem Sterbe¬
bette keine Zeit hatte, müde zu sein, so hatte er keine Zeit, krank zu sein.
6. Tod. Doch nur wenige Tage noch waren dem Kaiser Friedrich beschieden.
Die Krankheit wurde so bösartig, daß alle Hoffnung aus Besserung schwand. Aber
mit größter Geduld ertrug er alle Leiden. Seinem Sohne, unserm Kaiser, schrieb er
aus einen Zettel: „Lerne leiden, ohne zu klagen, das ist das Beste, was ich dich lehren
kann." Am Tage vor seinem Tode hatte die zweitjüngste Tochter des Kaisers ihren
Geburtstag. Als sie zu ihm kam, um sich den Glückwunsch des geliebten Vaters zu
holen, schrieb er ihr ins Stammbuch: „Bleibe fromm und gut, wie du bisher warst;
das ist der letzte Wunsch deines sterbenden Vaters." Die Kräfte des Kaisers sanken
von Stunde zu Stunde, und am Vormittag des 15. Juni fand der königliche Dulder
endlich Erlösung von seinem furchtbaren Leiden.
4}. Kaiser Wilhelm II. 15. Juni 1888.
1. Jugend. Kaiser Wilhelm II., der älteste Sohn des Kaisers Friedrich, wurde
am 27. Januar 1859 geboren. Zugleich mit den ersten Lese- und Schreibübnngen
begannen auch die soldatischen Übungen. Durch den Eifer, den er besonders hierbei
an den Tag legte, wurde er bald der Liebling seines Großvaters, des Kaisers Wilhelm.
Nachdem der Prinz 1874 konfirmiert worden war, schickten ihn seine Eltern aus das
Gymnasium in Cassel. Auf ihren Befehl sollte er hier wie alle anderen Schüler be¬
handelt werden. Keinerlei Vorrechte durste man ihm einräumen. Die Lehrer
mußten ihn daher einfach „Prinz Wilhelm" und „Sie" (nicht: „Königliche Hoheit")
anreden. Wer den Prinzen in seinem schlichten Anzuge aus der Schulbank sitzen sah,
der ahnte wohl schwerlich, daß er hier den einstigen deutschen Kaiser vor sich habe.
Gleich den übrigen Schülern unterzog sich der Prinz willig den kleinen Dienstleistungen
in der Schule, reinigte die Wandtafel, spitzte die Kreide und wusch den Schwamm am
Brunnen. Gegen seine Mitschüler war er stets freundlich und gefällig. Zu seinen Ge¬
nossen suchte er sich nicht die Vornehmsten, sondern die Besten und Fleißigsten aus.
Fast 3 Jahre lang blieb Prinz Wilhelm in Cassel. Als er dann an seinem
18. Geburtstage seine Abgangsprüfung ablegte, erhielt er das Zeugnis, daß er den
Anforderungen der Prüfung in „ehrenvoller Weise" genügt habe. Auch wurde ihm
eine der drei Denkmünzen überreicht, die an die drei fleißigsten und würdigsten
Primaner zur Verteilung kamen. Nach der Schulzeit trat Prinz Wilhelm als Offi¬
zier in das Garderegiment zil Potsdam ein. Als ihn sein Großvater den Offizieren
vorstellte, schloß er seine Rede mit den Worten: „Nun gehe und thue deine Pflicht,
wie sie dich gelehrt werden wird. Gott sei mit dir!" Um sich aber auch noch in den
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