Altdeutsche Heldensage.
lat. Nit einem Trinkhorn trat sie vor Siegfried, grüßte ihn und sprach:
„Fröhlich bin ich über dein Hiersein und möchte dir gern alles Gute
erweisen. Nimm dieses Horn und trink!“ Siegfried dankte freundlich,
nahm das Horn und leerte es in einem langen Zug. Der Unglückliche
ahnte nicht, daß ihm die arge Königin einen Vergessenstrank gereicht
hatte. Kaum war der Met über seine Lippen gekommen, da senkte
es sich wie ein dunkler Schleier über sein Denken und Sinnen; ver¬
schwunden war Brünnhildens geliebtes Bild, vergessen waren die Runen,
die sie ihn gelehrt. Und als nun Gibich ihn bat, auf längere Zeit an
seinem Hofe zu verweilen, da sagte er leichten Herzens zu. Zürnend
und gramvoll wandte Wotan von dem Verlorenen sich ab, und nun
brach das Verderben unaufhaltsam herein.
Nach der Mahlzeit sprach Ute zum König: „Der größte Held der
Erde kam zu uns; gib ihm unsre Tochter zur Ehe, auf daß er unsrer
Herrschaft eine starke Stütze bleibe!“ — „Ungebräuchlich ist es zwar,“
antwortete Gibich, „seine Töchter anzubieten; doch i h m sie zu schenken,
ist ehrenvoller, als wenn ein andrer um sie würbe. Wir wollen tun,
was du rätst.“ Am Abend kredenzte Kriembilde den Trinkenden
Wein und Met. Da sah Siegfried, wie schön sie war und wie holdselig;
und edel ihr ganzes Wesen. Günther merkte wohl auf die bewundern¬
den Blicke, mit denen der Held die liebliche Jungfrau betrachtete,
und er sprach, wie er mit seinen Eltern verabredet hatte: „Hohe Ehre
erweisest du uns und du könntest unserm Reiche ein rechter Hort
werden, wenn du hier bliebest. Darum wollen wir alles dransetzen
dich bei uns festzuhalten und bieten dir zugleich mit der Hälfte der
Herrschaft Kriemhilde, unsere Schwester, ohne Werbung zur Ehe an.
Kein andrer, und wenn er auch um sie bäte, würde sie erhalten.“ —
„Habt Dank,“ rief Siegfried fröhlich, „habt Dank für eure Gabe!
Wonne und Ehre bietet ihr mir zugleich; mit Freuden nehm’ ich an!“
Da schlossen sie mit Eiden den Vertrag und schwuren sich Blutsbruder¬
schaft. Darauf ward ein herrliches Fest bereitet, das manchen Tag
währte, wobei Siegfried mit der schönen Kriemhilde Hochzeit hielt..
Und als die Lustbarkeiten vorüber waren, fuhren die Gibichssöhne
mit dem Wälsung weit durch die Lande, vollbrachten viel ruhmvolle
Heldentaten und kehrten mit reicher Beute beladen heim.
Bilder 1) von M. Echter: „Siegfried am Hofe der Gibichungen.“ — 2) von 8 c h n o r r
von Carolsfeld: „Gernot, Ute, Giselher.“ — „Siegfried u. Kriemhilde.“ — „Kriemhildens.
und Siegfrieds Vermählung.“ —
82. Wie Brünnhilde König Günthers Weib ward.
Der greise König Gibich war gestorben, und Günther, der älteste der brei
Brüder, hatte die Herrschaft zuhanden genommen. Da sprach eines Tages Ute:
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