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Gewiß drückt sich in dieser Sitte die Ehrfurcht aus, die man dem
Hause, von dem man Schutz oder Güte erwartet, schuldig ist. In
England, Frankreich. Spanien ist es umgekehrt: dort kommt die
einheimische Dame zur fremden, wenn diese ihre Empfehlungs¬
briefe ihr gesandt hat — eine liebenswürdige Sitte, da eine solche
Zuvorkommenheit den im Lande Unbekannten jede Verlegen¬
heit erspart.
Es gibt in jedem Lande eine Menge von Vorschriften für den
guten Ton. und so raten wir jungen Mädchen, sich am besten von
ihrer Mutter in den in ihrem Wohnorte angenommenen Regeln
des guten Tones unterrichten zu lassen; denn es ist nie gut, gegen
herrschende Sitten zu verstoßen.
Für solche, die diese Anleitung nicht haben, seien z. B. folgende
Regeln über das Benehmen bei Tische gegeben. Das Messer zum
Munde zu führen, ist unschicklich; Knochenstückchen, Kerne usw.
lege man auf den Tellerrand, ja nicht auf das Tischtuch. Bei her¬
umgereichten Vratenstücken lange man. um andre nicht warten zu
lassen, schnell zu, ohne mit prüfenden Blicken sich das Beste aus¬
zuwählen. Beim Essen soll man kein Geräusch mit dem Munde,
Schnalzen mit der Zunge, beim Suppe-Essen kein Schlürfen hören
lassen. Man kaue stets mit geschlossenem Munde. Auch ist es
weder anmutig noch schicklich, den Ellenbogen auf den Tisch zu
legen oder aufzustützen. Es ist nicht artig gegen die Wirtin. E߬
bares auf dem Teller liegen zu lassen. Man darf sich nicht eher
von der Tafel erheben, bis die Wirtin dazu aufgefordert hat.
Alle diese Regeln beobachte man auch zu Hause, damit ein
gutes Benehmen zur Gewohnheit wird. Dabei gilt noch die Be¬
merkung. daß man auch in der Familie bei Tische nicht singen,
trällern oder pfeifen soll. Beim Kaffeetrinken darf man den
Zucker nicht in den Mund nehmen.
Geht ein junges Mädchen neben einer ältern Dame, so halte
sie sich auf der linken Seite. Tritt sie mit ihr durch eine Tür, so
bleibe sie bescheiden zurück und lasse der ältern Dame den Vortritt.
Besucht man eine Gesellschaft, so hat man dort zuerst die Hausfrau
mit einem Dank für die freundliche Einladung zu begrüßen. Wird
einer jungen Dame der Platz neben einer ältern oder neben einem
Herrn angewiesen, so hat sie deren Anrede abzuwarten, indes sie
ein ihr benachbartes junges Mädchen freundlich zuerst ansprechen
soll. Es ziert eine junge Dame, wenn sie sich stets zuvorkommend,
artig und gefällig, namentlich gegen ältere Personen, benimmt.
Rach einem Feste, zu dem man geladen war, hat man nach einiger
Zeit einen Danksagungsbesuch abzustatten.
Wenn wir nun vom guten Ton im allgemeinen weiter¬
sprechen wollen, so haben wir dabei auch noch etwas andres im
Sinn, etwas, das in das Familienleben eingreift und nach unsrer
Meinung noch wichtiger ist, als der gute Ton in Gesellschaft. Wir
meinen den wirklichen guten, d. h. wohlmeinenden liebreichen Ton.
den ihr selbst gegen eure Angehörigen, ja gegen die im Hause
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