IX. Der Acker und seine Bearbeitung rc.
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184 (198). Gehet hin und tut desgleichen.
1. Es wallt das Korn weit in die
Runde,
und wie ein Meer dehnt es sich aus;
doch liegt auf seinem stillen Grunde
nicht Seegewürm, noch andrer Graus;
da träumen Blumen nur von Kränzen
und trinken der Gestirne Schein.
O, goldnes Meer, dein friedlich Glänzen
saugt meine Seele gierig ein!
2. In meiner Heimat grünen Talen
da herrscht ein alter schöner Brauch;
wann hell die Sommersterne strahlen,
der Glühwurm schimmert durch den
Strauch,
dann geht ein Flüstern und ein
Winken,
das sich dem Ährenselde naht,
da geht ein nächtlich Silberblinken
von Sicheln durch die goldne Saat.
3. Das sind die Bursche, jung und
wacker,
die sammeln sich im Feld zuhauf
und suchen den gereiften Acker
der Witwe oder Waise auf,
die keines Vaters, keiner Brüder
und keines Knechtes Hilfe weiß —
ihr schneiden sie den Segen nieder,
die reinste Lust ziert ihren Fleiß.
4. Schon sind die Garben festgebunden
und schön in einen Kranz gebracht;
wie lieblich floh'n die stillen Stunden,
es war ein Spiel in kühler Nacht!
Nun wird geschwärmt und hell ge¬
sungen
im Garbenkreis, bis Morgenduft
die nimmer müden, braunen Jungen
zur eignen schweren Arbeit ruft.
Gottfried Keller.
185 (200). Was ist eine chemische Verbindung?
Ohne Chemie kann heute kein Gewerbe gedeihen, auch die
Landwirtschaft nicht. Über keinen Zweig der Wissenschaft herrschen
aber im Volke so wunderbare und sonderbare Begriffe wie über die
Chemie. Es gibt Unzählige, die sich vom Sauerstoffe eine Vor¬
stellung machen, als wäre das etwas so Saures, daß einem die Zähne
weh tun, wenn man es nur ansieht, als wäre Wasserstoff noch
zehnmal nässer als Wasser, und als wäre Stickstoff ein Ding, daß
alle Menschen daran ersticken, wenn es nur in die Stube hineinguckt.
Und doch hört man die Namen Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff
so häustg, daß man meinen sollte, es sei kein Mensch auf der Welt,
der diese Dinge nicht in- und auswendig genau kennte.
Was ist denn nun eigentlich Sauerstoff? — Gesetzt, es
brächte jemand einem Unkundigen eine Flasche voll Sauerstoff, so
würde dieser sicherlich behaupten, es sei eine leere Flasche. Er würde
die Flasche schütteln und finden, daß gar nichts darin ist, denn Sauer¬
stoff ist wie Luft durchsichtig und farblos. Er würde den Stöpsel
aufmachen und hineinriechen, aber auch da nichts finden; denn Sauer¬
stoff ist ein geruchloses Gas. Er würde die Zunge hineinstecken, um
daran etwas zu schmecken, aber auch da nicht die Spur entdecken;
denn Sauerstoff ist auch geschmacklos.
Aber der Unkundige wird staunen, wenn er durch einige Versuche
erst sehen wird, was mit diesem Sauerstoff geschehen kann. Wir
wollen ein paar Versuche damit anstellen.
Po lack, Lesebuch.
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