381 
bald der Edelmann, der für die Vergehungen seiner Väter 
furchtbar heimgesucht ward. Da tönt im Liede bald das 
Schicksal des Ritters, dessen Herrensitz in Flammen rauchte, 
bald donnernde Flüche gegen die Aufrührer, die in ihrem 
Rachewahnsinn jedes menschliche Gefühl verloren hatten. 
24. Damit ist bereits das Gebiet des rein historischen 
Liedes betreten. Es behandelt die großen Ereignisse der Zeit 
mit scharfer Parteifarbe für und gegen den Helden. Die 
Niederlage Herzog Ulrichs von Württemberg ward von den 
Seinen in Liedern beklagt, von der feindlichen Partei mit 
Siegesgefühl besungen. Sickingen1) und Hutten2) wurden 
schon bei Lebzeiten zu Helden des Volksliedes, und Luther 
bald von seinen Feinden mit den rohesten Schmachliedern 
beworfen, bald von protestantischer Seite verteidigt und aut 
den Schild gehoben. So hört man im Volksliede die kriege¬ 
rische und geistige Bewegung der Zeit wiederklingen, ja, man 
empfängt aus diesem Liederreichtum ein so lebendiges Bild, 
wie es keine absichtliche Darstellung treuer hätte wiedergeben 
können. 
25. Aber neben der bunten Vielgestalt des weltlichen 
Liedes findet sich auch das religiöse Volkslied verbreitet. 
Das Volksgemüt ist an sich gläubig; wie hätte in Zeiten, wo 
jede Empfindung zum Liede wurde, der Erguß frommen 
Gebetes nicht auch in diese Form strömen sollen? In der 
römischen Kirche fehlte es nicht an Anregung dazu. Gemein¬ 
same Wallfahrten zu Gnadenbildern oder an Heiligentagen 
forderten zum Gesang auf. Schon im vierzehnten Jahrhundert 
singen die Geißelbrüder3) bei ihren Umzügen Lieder, die von 
der Stimmung des Augenblicks hervorgerufen wurden. Die 
Entfaltung sinnlichen Reizes, den die Kirche den Augen bot, 
wirkte mächtig auf die Phantasie und rief Lieder hervor, in 
welchen das religiöse Gefühl sich wiederum mit sinnlicher 
Glut ausspricht. Maria, die reine Maid, wird wie eine 
Geliebte, Christus wie ein Bräutigam, ebenso werden die 
Heiligen mit überschwenglicher Inbrunst angesungen. Häufig 
dient die Form des weltlichen Liedes zur Einkleidung des 
geistlichen. So heißt es: „Es wollt’ ein Jäger jagen, er 
jagt vom Himmelsthron, was begegnet’ ihm auf dem Wege? 
Maria, die Jungfrau schon4).“ Der Jäger ist der Engel Gabriel, 
l) Franz von Sickingen (1481—1523), berühmter Feldhaupt¬ 
mann, hochangesehen bei Maximilian I. und Karl V. — 2) Ulrich 
von Hutten (1488—1523), einer der mutigsten Kämpfer für geistige 
Freiheit im Zeitalter der Reformation. — 3) Die Geißel brüder- 
schaften entstanden um 1350. Sie verdankten ihr Entstehn dem 
Wahne, es sei ein Gott wohlgefälliges Werk, sich selbst in schmerz¬ 
hafter Weise zu züchtigen. — 4) Schon, schön.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.