Full text: Lesebuch für gewerbliche Unterrichtsanstalten

3 
So bin ich denn am Erchtag in Heller Morgenfrüh zum Alpel¬ 
hofer gegangen. Lange stand ich auf dem Antrittsstein der Haustür 
und dachte: wie wird es sein, wenn ich wieder heraustrete? Eine fast 
feierliche Stimmung lag um das Haus, das auf dem Berge zwischen 
Eschen und Linden stand, und in dem die Entscheidung über mein 
Schicksal getroffen werden sollte. 
Als ich in die Stube eintrat, saß der Meister am Tisch und 
nähte. Vor ihm lag das Handwerkszeug, daneben zugeschnittenes 
Lodentuch, und an der Sitzbank hing das Bügeleisen. 
„Gelobt sei Jesus Christus," flüsterte ich. 
„In Ewigkeit," antwortete er mit milder, tiefer Stimme. 
Ich blieb an der Tür stehen. Es war alles still. Er zog die 
Nadel auf und nieder; nur die Wanduhr tickte, und mein Herz pochte 
dem Augenblicke entgegen. „Was willst denn?" fragte mich nach einer 
Weile der Meister. „Schneider werden möcht ich halt gern," ant¬ 
wortete ich zagend. „So, bist du derselbe," sagte er und blickte eine 
Weile auf mich her. „In Gottes Namen, geh's an. Setz' dich her, 
nimm Nadel und Zwirn und nähe mir diesen Ärmling zusammen." 
So tat ich — aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken im 
Kiffen an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel ver¬ 
schiedener Feine und Farbe. Und die beiden Teile des Ärmlings, wie 
werden sie behandelt und zusammengetan? Ich warf fragende Blicke 
auf den Meister, aber er tat nicht, als wisse er mehr als ich. So 
hub ich denn an. Ich fädelte ein und legte den Loden aufs Knie 
und machte einen Stich. Der Faden schlüpfte durch. Der erste Stich 
war mißlungen. An den Wangen tief erglühend, forschte ich der Ur¬ 
sache nach und kam endlich d'rauf, daß von mir vergeffen worden war, 
in den Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit großer 
Mühe ein Knötlein und beschäftigte all' meine zehn Finger dabei. 
Hierauf nähte ich mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen. Es ver¬ 
wand und verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel am 
Finger, es verschob sich der Loden und ließ sich mit jedem Zug hoch 
in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden. 
Mittlerweile kam der alte Alpelhofer in die Stube und rief: 
„Zum Dünner, jetzt ist ein junger Schneider Herkommen!" „Ja," sagte 
mein Meister. Wie mir dies Wörtlein wohlgetan hat! Im Voll¬ 
bewußtsein meiner Ungeschicklichkeit hatte ich von Minute zu Minute 
erwartet, daß der Meister mich fortschicken werde; aber dieses Ja war 
wie eine Anerkennung und Einsetzung. „Das ist brav," sagte der 
Alpelhofer und ging wieder davon. 
Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein 
Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hatte, und als ich 
endlich mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge 
fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: „Jetzt trenne den 
Ärmling wieder auf — bis auf den letzten Stich alles auf und ziehe 
die Fäden sauber aus. Achtung geben mußt nur, daß du den Loden 
nicht anschneidest! Als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte 
und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie sie mir der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.