Full text: Lesebuch für gewerbliche Unterrichtsanstalten

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verhalten, so die Fabrik zum Handwerke. Die Grenze sehe ich darin, 
daß in der Fabrik ein gebildeter Mann schon durch die bloße Ober¬ 
leitung vollständig beschäftigt wird, im Handwerke dagegen diese Ober¬ 
leitung dem Unternehmer noch Zeit genug übrig läßt, um auch an 
der unmittelbaren Ausführung teilzunehmen, was zugleich sein all¬ 
gemeiner Bildungsstand durchaus nicht verschmäht. 
Das Handwerk in seiner blühendsten Periode war streng an 
Städte und Zünfte gebunden. Im Geiste des Mittelalters könnte 
man sagen, die Bannmeile mit allen dazu gehörigen Industriezweigen 
war ein Gesamtlehn der Stadt; die einzelnen Teile dieses großen 
Ganzen waren den Zünften als Afterlohn gegeben, bis auf einige, 
die der Rat sich selbst vorbehielt, wie den Ratskeller, die Ratsapolheke, 
und andere, die jedem Bürger ohne weiteres offen stehen sollten, die 
sogenannte bürgerliche Nahrung. Eine Menge von Einrichtungen war 
darauf berechnet, unter den Betreibern gleicher Gewerbe eine ge¬ 
wisse Gleichheit festzuhalten, z. B. die vorgeschriebene Maximalziffer 
der Gesellen oder Lehrlinge, das anbefohlene Reiheumgehen des Be¬ 
triebes u. dgl. m. Dagegen hat die Fabrik, mit Ausnahme der so¬ 
genannten Realgewerberechte, wie Mühlen, Brauereien usw., die doch 
meist auf einen nur örtlichen Absatz berechnet waren, von jeher sowohl 
in der Wahl ihres Ortes wie in der Ausdehnung ihres Betriebes 
eine mehr oder minder völlige Freiheit genossen. Zwar wurde früher, 
wenigstens in den Kontinentalstaaten, zur Anlage einer Fabrik gewöhn¬ 
lich eine Konzession erfordert; der Staat aber versagte diese nur in 
solchen Fällen, wo schon bestehende Fabrikprivilegien oder Zunft¬ 
gerechtsame direkt dagegen stritten, oder wo man „Übersetzung eines 
Nahrungszweiges" wahrzunehmen glaubte, oder auch bei holzverzehrenden 
Gewerben ein zu hohes Anschwellen der Holzpreise gefürchtet wurde. 
Die beiden letzten Gründe würden heute für den Staat völlig hinfällig 
sein, da ja das Selbstinteresse des Bewerbers in erster Linie damit 
rechnen müßte. Daher befolgen gegenwärtig viele Staaten den Grund¬ 
satz, die Handwerke zwar, zumal die mit bloß örtlichem Absätze, vor 
übermäßiger Konkurrenz zu schützen, die Fabriken aber durchaus frei 
zu lassen. Freilich wird eben damit bei der Wandelbarkeit der Grenz¬ 
linie zwischen Fabrik und Handwerk, zwischen Welt- und Lokalmarkt usw., 
den Großen und Starken das Vorrecht gegeben, ihre Kräfte frei zu 
gebrauchen, während die Kleinen und Schwachen vom alten Zunftwesen 
nicht mehr den Schutz, wohl aber den Zwang behalten: einer der 
stärksten Billigkeitsgründe für Gewerbefreiheit auf höheren Kulturstufen. 
Roschers Ansichten d. Volksweise. 
175. Die heutige Organisation des Handwerks. 
Mit der Aufhebung des Zunftzwanges und der Einführung der 
Gewerbefreiheit war das deutsche Handwerk sich völlig überlasten; es 
trieb, gleich einem Wrack, als untaugliches Schiff auf dem Ozean des 
gewerblichen Lebens dahin. Und wenn auch hier und da manch 
einsichtiger und tüchtiger Handwerksmeister in seinem Fache zu Be¬
	        
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