58 
Erdmann: Über Kollision von Pflichten. 
eine befaßt die Bewegungen des Willens, die nur aus dem eigenen Genius 
hervorgehen, die persönlichsten Neigungen und Wünsche des Herzens, in 
welche man so sehr das eigentliche Selbst des Menschen und sein eigenstes 
Sein setzt, daß man hiervon zu sagen pflegt, dies tue er von selbst oder 
hierin lasse er sich gehen. Dieser Wurzel des eigenen (Selbst-) Wollens 
steht eine andere Macht gegenüber, vor der das Persönliche verschwindet 
und welche, durch die Vernunft zu uns sprechend, unser Wollen auf das 
Allgemeingültige richtet. Wo die Wellen dieser beiden Kreise sich begegnen 
und kreuzen, da fühlt natürlich der Mensch sein persönliches Wollen, jene 
selbstischen Neigungen gehemmt, und diese Hemmung, diesen Druck und 
Zwang nennt er das Müssen oder das Gesetz, so daß also, weil darin 
seinem Sichgehenlassen entgegengetreten, sein eigenes Sein verneint wird, 
wir es keinem verdenken können, wenn die Worte „Du mußt so sein" ihm 
klingen wie „Du bist nicht so." War aber jede Pflicht ein Müssen, so 
war es auch folgerichtig, wenn Kant, der Philosoph, der, weil ihm Pflicht 
das Höchste war, sie am genauesten erforscht hat, ihr Wesen darein setzte, 
daß der Mensch sich überwinde, seine persönlichen Wünsche unterdrücke. — 
Schiller hat in einem seiner Renten dem Kantianer, der darüber klagt, 
daß Neigung ihn dienstfertig gegen seine Freunde mache und es also keinen 
moralischen Wert habe, den Rat gegeben, er solle die Freunde zu verachteu 
suchen „und mit Unlust alsdann tun, was die Pflicht ihm gebeut". Der 
echte Kautianer kann in diesem Rate keinen Spott, sondern nur das in 
hübsche Verse gebracht sehen, was Kant, zwar in Prosa, aber wörtlich, selbst 
ausgesprochen hatte. Er sagt ausdrücklich: „Wer aus Wohlwollen dem 
Nebenmenschen hilft, der handelt nicht moralisch, sondern nur, wer es tut, 
ohne daß Natur ihn zu einem Menschenfreunde schuf." Freilich eine andere 
Folgerung wird sich der Kantianer weniger gern gefallen lassen, um derent¬ 
willen allein ich die trockene Untersuchung, was das Wort Pflicht bedeutet, 
angefangen habe und noch einige Schritte begleitet sein möchte: „Pflicht¬ 
mäßig handeln heißt sich überwinden, der eigenen Neigung nicht folgen." 
Wem denn? Nur jener allgemeinen Macht, die den persönlichen Wünschen 
entgegentritt. Nicht Wohlwollen, nicht Menschenliebe, nicht die Sympathien 
des Herzens sollen nach Kant uns leiten, sondern nur eius, die Liebe zum 
Gesetz, die Achtung vor ihm. Wie aber? Diese Achtung und Liebe zum 
Gesetz, ist sie nicht Lust an ihm, und wenn ich mit Lust an ihm handle, 
verstoße ich nicht da gegen das, was Kant in Prosa gelehrt und Schiller 
in Verse gebracht hat, gegen die Vorschrift, mit Unlust zu handeln? Ich 
stehe da wirklich zwischen Scylla und Charybdis; denn was vom Menschen¬ 
freunde galt, wird am Ende auch vom Gesetzesfreunde gelten, und die Sache 
steht also so: Nur wer aus Liebe zum Gesetz handelt, erfüllt die Pflicht;
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.