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40. Das Testament.
am meisten über seinen Geiz als über ein Unrecht, das er ihnen
und zugleich auch seinem Stande tue. Dieser Tadel war laut und
öffentlich; er aber, als ob er nichts bemerkte, ging seines Weges
und blieb bei der angenommenen Weise bis an seinen Tod, der
vor einigen Monaten erfolgt ist. Sobald sich die Nachricht von
diesem Ereignisse verbreitete, fanden sich einige weitläufige Ver¬
wandte ein, die mtf die Schätze des geizigen Vetters gerechnet
hatten, ob sie gleich selbst nichts weniger als arm waren. Der Nachlaß
an Hausgeräte ließ nicht viel erwarten; aber man wunderte sich
nicht, daß sich ein so geiziger Mann von allem losgemacht hatte,
was zur Bequemlichkeit gehörte; ja, die vermeintlichen Erben
mochten sich freuen, daß er töricht genug gewesen war für sie zu
darben. Alle waren jetzt auf seinen letzten Willen gespannt. „Wie
hoch mag sich sein Nachlaß belaufen? Was mag er darüber ver¬
ordnet haben? Wer wird Universalerbe sein?" Mit diesen Fragen
beschäftigte sich das Publikum bis zur Eröffnung des Testamentes
und der Saal des Stadthauses war mit Menschen angefüllt, welche
die Neugierde herbeigezogen hatte. Auch ich war unter diesen
und vielleicht war in der ganzen zahlreichen Versammlung kein
einziger, mich mit eingeschlossen — denn man muß sein Unrecht
nicht verhehlen — der nicht die übelste Meinung von dem Ver¬
storbenen mitbrachte. Wir wurden alle beschämt; aber, was das
Beste war, die Verwandten ausgenommen, war niemand, der sich
seiner Beschämung nicht recht herzlich gefreut hätte.
Das Testament fing nach der gewöhnlichen Eingangsformel
mit der Erklärung an, daß sich der Erblasser sein ganzes Leben
hindurch bemüht habe nach seinen Kräften die Pflichten eines
guten Christen und Bürgers zu erfüllen. — Bei diesen Worten
ging ein dumpfes Murmeln durch die Versammlung. Viele lachten;
einige husteten; andre ließen etwas von schändlicher Heuchelei
fallen. Der Lesende mußte einige Augenblicke innehalten, bis
sich das Getöse gelegt hatte. Dann hieß es weiter: er habe hierbei
jahrelang den gewöhnlichen Weg verfolgt und so wie andre Almosen
gegeben usw. Bald aber sei er §it der Einsicht gelangt, daß auf
diese Weise bei dem besten Willen wenig Gutes geschafft, vielmehr
in den meisten Fällen die Trägheit genährt und der Weg zur Besse¬
rung versperrt würde; da habe er den Entschluß gefaßt seine Habe,
statt sie unnützerweise in einzelnen Handlungen der Wohltätigkeit
zu vergeuden, §u einem allgemein nützlichen Zweck zu verwenden.
Was die Stadt am meisten bedürfe, wisse jedermann; auch daß
es an Mitteln fehle dem Bedürfnisse abzuhelfen und man sich
also wohl noch ein Jahrhundert lang ohne Frucht und Nutzen be¬
klagen würde, wenn man nicht durch einen herzhaften Entschluß