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§ 33. Jerusalem's Zerstörung (70 n. Chr.). Titus.
Da mit dem Aussterben des Augusteischen Hauses alle Erbberech¬
tigungen wegfielen und die Legionen immer mehr erkannten, daß die höchste
Gewalt bei ihnen stehe, so glaubte jedes Heer ohne Unterschied seinen An¬
führer als Imperator oder Cäsar Augustus (woher der Name Kai¬
ser) begrüßen zu können. Somit waren, wenn die Einheit des Reichs
fortbestehen sollte, bei fast jeder Thronveränderung Thronfolgekriege unver¬
meidlich. So starben in den anderthalb Jahren nach Nero's Tode drei
Kaiser: Galba, Otho und der Schlemmer Vitellins, der vor dem
hungernden Volke in vier Monaten 42 Millionen Thaler verfraß, eines
gewaltsamen Todes, von welchen der erste durch die spanischen, der letzte
durch die rheinischen Legionen zum Kaiser ausgerufen worden war.
Als diese Dinge im Westen des Reichs vorgingen, wurde der Feldherr
Titus Flavius Vespasianus, welcher mit seinen Legionen eben vor
dem aufständischen Jerusalem lag, von seinem Heere zum Kaiser ausgerufen
(69 n. Chr.). Auch die Legionen an der Donau erklärten sich für ihn und
brachen zum Sturz des Vitellius gegen Italien und Rom auf. Vespafian
überließ die Belagerung der jüdischen Hauptstadt seinem Sohne Titus und
reiste nach Alexandrien, wo er des Vitellius Ermordung und seine Anerken¬
nung von Senat und Volk erfuhr.
Unterdessen setzte Titus den Krieg in Judäa fort, und das prophetische
Wort, welches der Erlöser einst weinend über Jerusalem gesprochen, ging
bald in Erfüllung. Unter Herodes Agrippa I. nämlich, Hcrodes des
Großen Enkel, war Palästina wieder auf einige Zeit vereinigt gewesen
(37 — 44 n. Chr.), aber nach seinen: Tode war die Verwaltung fast des
ganzen Landes wieder an die Römer übergegangen und dem jugendlichen
Agrippa II. erst im Jahre 53 n. Chr. ein kleiner Theil des väterlichen
Reichs, das Nordost-Jordanland, eingeräumt worden. Die römischen Land-
pfleger zu Cäsarea übten wieder harten Druck und schürten das unter
der Asche glimmende Feuer der Empörung. Falsche Messiasse traten auf
und erhitzten die Einbildungskraft des unterdrückten Volks, viele Juden zogen
sich in die Wüsten und Höhlen zurück und die Zahl der Eiferer (Zeloten),
die den Verzweiflungskampf wagen wollten, ward immer größer. Endlich
loderte unter dem tyrannischen Landpfleger Gessius Florus (65 n. Chr.)
der Aufruhr in hellen Flammen auf. Dazu drängte die pharisäische Par¬
tei der Zeloten, welche den großen Hausen mit immer wilderen Hoffnungen
auf einen Messias, einen Führer zu Sieg, Beute und Herrschaft, fanatisir-
ten und auch die Verbindung mit jenen Räubern und Meuchelmördern in
den Wüsten und Höhlen nicht verschmähten. Gegen diese Partei, welche
bald ganz Jerusalem innehatte, erhob sich eine andere römisch gesinnte,
sadducäische Partei, und es kam zum Bürgerkriege. Noch vor Ausbruch
desselben, noch ehe die Adler geflogen kamen, um sich über dem
Aase zu schaaren, hatte der Herr seine Taube, die Christeilgemeinde gebor¬
gen. Sie war aus Jerusalem nach Pella am todten Meere gezogen, wo
König Arctas von Arabien ihr eine Freistätte einräumte. Endlich erschien,
vom Kaiser Nero zur Unterdrückung des bedenklichen Aufstandes gesendet,
Vespasian mit einem ausgesuchten Heere, eroberte Galiläa (68 n. Chr.) und