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Er konnte den Hut nicht mehr halten, so schwer war er geworden. „Macht
ihn leer, Alter!“ riefen die Leute dem Invaliden zu; „er wird noch einmal
voll.“ Der Alte that's, und richtig! er mußte ihn noch einmal leeren in seinen
Sack, in den er die Violine zu stecken pflegte. Der Fremde stand da mit
leuchtenden Augen und spielte, daß ein Bravo über das andere schallte. Alle
Welt war entzückt. Endlich ging der Geiger in die prächtige Melodie des
Liedes: „Gott erhalte Franz, den Kaiser! ꝛc.“ über. Alle Hute und Mützen
flogen von den Köpfen; denn die Ostreicher liebten ihren edlen Kaiser Franz
von ganzem Herzen, und er verdiente es auch. Allgemach wurde der Volks—
jubel so groß, daß alle Leute das Lied sangen. Der Geiger spielte in der
größten Begeisterung, bis das Lied zu Ende war; dann legte er rasch die
Geige in des glücklichen Invaliden Schoß, und ehe der alte Mann ein Wort
des Dankes sagen konnte, war er fort.
„Wer war das?“ rief das Volk. — Da trat ein Herr vor und sagte:
„Ich kenne ihn sehr wohl, es war der ausgezeichnete Geiger Alexander Boucher
(sprich: Bu⸗schs), der hier seine Kunst im Dienste der Barmherzigkeit übte. Laßt
uns aber auch sein edles Beispiel nicht vergessen.“ Der Herr hielt seinen Hut
hin, und aufs neue flogen Sechsbätzner in den Hut des Herrn, der diesmal
für den Invaliden aufhob. Alles gab, und als dann der Herr abermals das
Geld in des Invaliden Sack geschüttet, rief er: „Boucher lebe hoch!“ —
„Hoch! hoch! hoch!“ rief das Volk. Und der Invalide faltete seine Hände
und betete: „Herr, belohne du's ihm reichlich!“
Und ich glaube, es gab an diesem Abend zwei Glückliche mehr in Wien.
Der eine war der Invalide, der nun weithin seiner Not enthoben war, und
der andere war Boucher, dem sein Herz ein Zeugnis gab, um das man ihn
beneiden möchte. W. oO. v. Horn.
102. Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten.
Das Handelshaus Gruit van Steen war im Beginn des siebzehnten Jahr⸗
hunderts eines der angesehensten, reichsten und festbegründetsten in Hambutg.
Inhaber der Handlung war damals Herr Hermann Gruit, der nach dem
Tode des ehrwürdigen Vaters mit der Handlung und dem Hause auch den
alten Jansen als Erbstück überkommen hatte, einen goldtreuen Diener des
Hauses, mit Leib und Seele, wie sonst dem alten, nun dem jungen Herrn
zugethan, welchen er schon als Kind auf den Knieen geschaukelt hatte Wenige
verstanden das Handelswesen damaliger Zeit bis in seine äußersten Verzwei⸗
gungen so von Grund aus, wie der alte Jansen; daher galt auch sein Wort
in der Schreibstube wie das des Herrn.
Der dreißigjährige Krieg verheerte schon seit zwanzig Jahren unser armes
Vaterland durch Raub, Mord und Brand von einem äußersten Ende zum
andern. Städte und Dörfer wurden zu Hunderten verheert und verlassen von
den Bewohnern, die mit dem Vieh in die Wälder geflohen waren, um sich
vor den räuberischen, blutigen Händen der gottlosen Lanzenknechte zu retten.
Bei diesem allen und der Unsicherheit der Straßen in allen Lündern war es
kein Wunder, daß der Handel stockte und vorzüglich der Betrieb ins Innere
von Deutschland gelähmt war. Das fühlte man auch im Comptoir des Herrn
Hermann Gruit, da schon seit längerer Zeit viel seltener und weniger bepackt
die Saumrosse und Frachtwagen vor dem Hause hielten, und im Hause war
es oft wochenlang so still wie in einer Kirche, während es sonst manchen