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Indes haben sich nicht alle Völker aus eigener Kraft in den
Besitz der Schrift gesetzt, sondern viele die schon bewährten Zeichen
anderer Nationen übernommen. Das gilt z. B. von den Kultur¬
völkern Europas, deren Alphabete den fremden Ursprung nicht ver¬
leugnen können. Wenn diese hinsichtlich der Reihenfolge, Form
und Geltung der Buchstaben in der Hauptsache übereinstimmen,
so erklärt sich das nicht aus gemeinschaftlicher Ausbildung, sondern
aus gegenseitiger Entlehnung. Daß dabei Abweichungen im ein¬
zelnen vorkommen, kann den nicht befremden, der erwägt, welche
Verschiedenheiten in der Aussprache der Laute sich in räumlich
getrennten Gegenden entwickeln. So haben die Römer ihre Schrift
von den Griechen erhalten.
Natürlich breitete sich die Kenntnis der Schrift nur allmählich
aus, ja oft waren jahrhundertelang einzelne Stände im Alleinbesitz
der Schreibkunst, weil sie deren Bedeutung am frühesten zu würdigen
verstanden. Bei den Handelsvölkern der Phönicier und Griechen
erkannten die Kaufleute sehr bald die Vorteile dieser Fertigkeit und
nutzten sie aus, bei weniger beweglichen Naturen, wie den Römern
und den Deutschen, verwerteten sie besonders die Priester, dort,
um ihre Namen und die wichtigsten Vorkommnisse ihrer Amtszeit
der Vergessenheit zu entreißen, hier, um damit Wahrsagerei zu
treiben. Denn aus der verschiedenen Lage zur Erde geworfener
Vuchenstäbchen, in die die Buchstaben (Vuchstäbchen) eingeritzt waren,
suchten sie vornehmlich den Willen der Götter zu erkunden. Die
„Runen" (Geheimnisse), wie sie die Schriftzeichen nannten, gaben
ihnen Aufschlüsse über das wunderbare Walten der höheren Mächte
und „raunten" ihnen die Geheimnisse der Himmlischen zu.
Wie die frommen Sendboten, die in Deutschland das Evan¬
gelium predigten, die übrigen altheidnischen Gebräuche bekämpften,
so beseitigten sie auch die der Wahrsagerei und Zauberei dienenden
Runen. An ihre Stelle traten Buchstabenformen, die teils ans
der lateinischen Kursiv (laufend, schräg liegend), teils aus anderen
im Interesse der Bequemlichkeit erfolgten Umbildungen der alten
Kapitalschrift (Hauptschrift, große Schrift) hervorgegangen waren.
Die weitere Entwickelung zeigt bei verschiedenen germanischen Völkern
manche Besonderheiten, von denen diejenigen für uns am bedeut¬
samsten sind, die sich im Laufe des 13. Jahrhunderts in Deutschland
herausbildeten: einmal die Schreibweise, welche nach ihren Schöpfern
Mönchsschrift, nach ihren eckigen, spitzwinklichen Formen gotische
Schrift genannt wird und sodann eine andere, etwas flüssigere, die
hauptsächlich dem Bedürfnis der Schnelligkeit entgegenkam. Aus
jener ist unsere heutige Druckschrift, aus dieser unsere jetzige Schreib¬
schrift hervorgegangen.