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117. Vier deutsche Vögel.
Der Teich liegt noch halb im Nebeldampfe verhüllt, die Mühle des
Nachbars feiert noch, im Röhricht raschelt ein rühriger Wind: da erhebt
zuerst der Rötling oder das Rotschwänzchen seine schüchterne Stimme.
Hat ihn der schlaflose Kuckuck oder der Frühruf des Pirol erweckt, oder
trieb Elternsorge ihm den Schlaf vom Auge? Auf der First der alten
Stadtmauer hinlaufend, scheint er Beute zu suchen für die Jungen, die
in jener Steinlücke ihr Nest haben, und immer häufiger und lauter klingt
seine melancholische Strophe. Das Tierchen preßt sie mühsam. hervor,
es ist, als sinne es wie auf ein verlornes Wort, immer versucht es von
neuem die heisere Kehle. Aber umsonst! In den einzigen armen,
melancholischen Laut muß es die ganze Freuden- und Sorgenwelt seines
Vogelherzens hineinlegen, und in diesem einen Tone singt es ununter¬
brochen vom Frühling bis in den Spätherbst mit dem Rotbrüstchen um
die Wette, wenn längst die anderen Sänger verstummt sind, und gerade
das macht seinen Gesang so rührend. Dazu lebt der Vogel so anspruchs¬
los und fast scheu, als wisse er nicht, wie schön das Bronzegrau am
Flügel und Rücken, wie schön das Rostrot des Unterkleides ihm stehe.
Sein Flug ist gewandt, sein Schwänzchen immer in Bewegung, seine
Augen blicken hell und sehen gleich Fernröhren vom Giebel des Hauses
herunter den kleinsten Käfer im Staube rudern, und husch! ist er ge¬
fangen. Sonst wäre nicht viel von dem gutmütigen Tierchen zu sagen,
und das mag hier ebensosehr für ein Lob gelten als bei der Hausfrau,
die ja um so besser sein soll, je weniger man von ihr zu reden hat.
Sein warmes- Halmennest ist niedlich anzusehen mit den blaugrünen
Eierchen, aber der Knabe läßt es unangetastet; denn er weiß, daß der
Blitz seine räuberische Hand zerschmettern würde. Es ist noch wie ein
Nachklang von dem alten deutschen Glauben, der den Rötling um seines
roten Gefieders willen heilig hielt und ihn den Vogel Thors hieß, des
slammbärtigen Donnerers.
Das ist denn auch der Name seines nächsten Blutsverwandten und
Nachbars, des Rotkelche ns oder Rotbrüstchens, während freilich
die Legende gar sinnig zu erzählen weiß, daß die rote Brust dem Vogel
von jenem Tage verblieben sei, als er auf Golgatha wehklagend das
Kreuz Christi umflattert und sich vergebens gemüht habe, das schuldlos
fließende Blut zu stillen. — Auch dibser muntere Schlüpfer kommt dann
und wann in mein Gehege. Drüben in den Erlenbüschen der Mühle ist
sein Nest, fast liegt es an der Erde; aus ein paar hingeworfenen Halmen
und Federn leicht gebaut, aber von Dorn und Blättern sicher überwölbt.
Als habe es der englische Dichter vor Augen gehabt, so treu malt er's: