Full text: Viertes, fünftes und sechstes Schuljahr (Teil 2)

B. Bilder aus der griechischen und römischen Heldensage 
und Geschichte. 
87. Herakles am Scheidewege. 
1. Eines Tags begab Herakles sich von Hirten und Herden weg 
in eine einsame Gegend und überlegte still bei sich, welchen Lebensweg 
er einschlagen sollte. Da sah er auf einmal zwei Frauen von hoher 
Gestalt auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Wesen 
Anstand und edle Würde, ihr Blick war bescheiden, ihre Haltung 
sittsam, das Gewand, welches sie trug, einfach und von fleckenloser 
Reinheit. Die andre hatte sich über die Maßen herausgeputzt und 
ihre Haut geschminkt, den Kopf warf sie eitel in die Höhe, und mit 
den Augen betrachtete sie bald selbstgefällig ihre eigne Gestalt, bald 
blickte sie um sich, ob auch andre sie sähen; oft schaute sie nach 
ihrem eignen Schatten. 
2. Als die beiden dem Herakles näher kamen, ging die erstere 
ruhig ihren Gang fort, die andre aber drängte sich vor, lief auf 
den Jüngling zu und sprach: „Herakles, ich sehe, du bist unschlüssig, 
welchen Weg du durch das Leben einschlagen sollst. Wenn du mich 
zur Freundin erwählst, so werde ich dich die angenehmste und gemäch¬ 
lichste Straße führen: keine Lust sollst du ungekostet lassen und dein 
Leben ohne jegliche Beschwerde hinbringen. Um Kriege und Geschäfte 
hast du dich nicht zu bekümmern; du darfst nur darauf bedacht sein, 
mit den köstlichsten Speisen und Getränken dich zu laben, deine Augen, 
deine Ohren und die andern Sinne zu ergötzen, auf dem weichsten 
Lager zu schlafen und dir alle diese Genüsse ohne Mühe und Arbeit 
zu verschaffen. Solltest du jemals um die Mittel dazu in Verlegenheit 
sein, so fürchte nicht, daß ich viele körperliche und geistige An¬ 
strengungen dir aufbürden und durch Gefahr und Not dich dazu führen 
werde; nein, du wirst die Früchte fremden Fleißes genießen und nichts 
von dem entbehren, was dir Gewinn bringen kann. Denn ich gewähre 
meinen Freunden die Freiheit, alles zu benützen.“
	        
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