B. Bilder aus der griechischen und römischen Heldensage
und Geschichte.
87. Herakles am Scheidewege.
1. Eines Tags begab Herakles sich von Hirten und Herden weg
in eine einsame Gegend und überlegte still bei sich, welchen Lebensweg
er einschlagen sollte. Da sah er auf einmal zwei Frauen von hoher
Gestalt auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Wesen
Anstand und edle Würde, ihr Blick war bescheiden, ihre Haltung
sittsam, das Gewand, welches sie trug, einfach und von fleckenloser
Reinheit. Die andre hatte sich über die Maßen herausgeputzt und
ihre Haut geschminkt, den Kopf warf sie eitel in die Höhe, und mit
den Augen betrachtete sie bald selbstgefällig ihre eigne Gestalt, bald
blickte sie um sich, ob auch andre sie sähen; oft schaute sie nach
ihrem eignen Schatten.
2. Als die beiden dem Herakles näher kamen, ging die erstere
ruhig ihren Gang fort, die andre aber drängte sich vor, lief auf
den Jüngling zu und sprach: „Herakles, ich sehe, du bist unschlüssig,
welchen Weg du durch das Leben einschlagen sollst. Wenn du mich
zur Freundin erwählst, so werde ich dich die angenehmste und gemäch¬
lichste Straße führen: keine Lust sollst du ungekostet lassen und dein
Leben ohne jegliche Beschwerde hinbringen. Um Kriege und Geschäfte
hast du dich nicht zu bekümmern; du darfst nur darauf bedacht sein,
mit den köstlichsten Speisen und Getränken dich zu laben, deine Augen,
deine Ohren und die andern Sinne zu ergötzen, auf dem weichsten
Lager zu schlafen und dir alle diese Genüsse ohne Mühe und Arbeit
zu verschaffen. Solltest du jemals um die Mittel dazu in Verlegenheit
sein, so fürchte nicht, daß ich viele körperliche und geistige An¬
strengungen dir aufbürden und durch Gefahr und Not dich dazu führen
werde; nein, du wirst die Früchte fremden Fleißes genießen und nichts
von dem entbehren, was dir Gewinn bringen kann. Denn ich gewähre
meinen Freunden die Freiheit, alles zu benützen.“