Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

Da ist ein schön gelber Zeugstoff ausgestellt. Er ist mit Pikrin¬ 
säure gefärbt. Pikrinsäure, die auch einen wesentlichen Bestandteil 
des neuen, rauchschwachen Schießpulvers bildet, wird aus Steinkohlen, 
teer gewonnen. Daneben befindet sich ein Schrank, der eine Zusammen¬ 
stellung verschiedenfarbiger Seidenstoffe enthält. Dieses leuchtende 
Rot, dies brennende Fuchsin, dies zarte himmelblau, dies saftige 
Grün, dies tiefe Schwarz, das alles sind Anilinfarben, die nach der 
Erfindung des Professors hoffmann aus Lteinkohlenteer hergestellt 
werden. Eine andere Zusammenstellung gleich schöner Stoffe ist mit 
Alizarinfarben gefärbt, die nach der Erfindung Liebermanns ebenfalls 
aus Steinkohlenteer dargestellt werden. Der unangenehme Geruch, 
der sich in der Nähe dieser Stoffe geltend macht, rührt von Naphthalin 
her, das man zum Schutze gegen Motten eingestreut hat. Dies wirk¬ 
samste Mottengift gewinnt man aus Steinkohlenteer. Ebenso wider- 
wärtig empfindet man den Geruch der Aarbolsaure, mit der man 
zur Desinfizierung den Fußboden besprengt hat und die auch aus 
Steinkohlenteer hergestellt wird. Weniger lästig für den Geruchsinn 
wäre es wohl gewesen, wenn man zur Desinfizierung Salicylsäure 
verwendet hätte, die nach der Erfindung des Profeffors Rolbe eben¬ 
falls aus Steinkohlenteer gewonnen wird. Salicylsäure findet auch 
in der Heilkunde wirksame Verwendung. Ein anderes Heilmittel, das 
Antipyrin, das feinem Erfinder Or. Rnorr in Jena große Summen 
einbrachte, wird auch aus Steinkohlenteer verfertigt, ebenso das 
Phenacetin, das manche für wirksamer gegen Ropfschmerzen halten 
als das Antipyrin. 
Zn einem andern Raume der Ausstellung, in dem Seifen, wohl¬ 
riechende Gle und andere Wohlgeruchsmitte! ausgestellt sind, scheint 
der Besucher einem Übermaß von Blumenduft ausgesetzt zu sein. 
Doch alle diese Wohlgerüche sind fast ohne Ausnahme aus Steinkohlen¬ 
teer destilliert« Es findet sich auch Gelegenheit, eine Erfrischung ein¬ 
zunehmen, ein Glas Eis und ein Stückchen Rüchen. Das Eis, das 
prächtig nach Vanille schmeckt und duftet, enthält aber keine Vanille, 
es ist mit Vanillin zubereitet, das aus Steinkohlenteer hergestellt 
wird. Der Rüchen ist vielleicht mit Saccharin gesüßt. Es ist 
dies der stärkste bekannte Süßstoff, der dreihundertma! süßer als 
Zucker ist, so daß man mit ein oder zwei Messerspitzen so viel er¬ 
reicht, als mit einem Pfund Zucker. Saccharin gewinnt man aus 
Steinkohlenteer. hiernach sollte man denken, man könnte alles aus 
Steinkohlenteer Herstellen. Nun, nicht gerade alles, aber doch noch 
sehr viel mehr, als was hier angeführt ist. Die Auffindung der 
meisten dieser aus dem Steinkohlenteer ausgeschiedenen chemischen 
Stoffe stammt aus den letzten zwei Dritteln des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts. Das ist begreiflich, da der Steinkohlenteer ein Rückstand 
der Gaserzeugung ist, die allgemeine Verbreitung erst während der 
letzten zwei Menschenalter gefunden hat. Nach L-unhà
	        
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