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weissagenden Blick in die Zukunft habe. Alrunen nannte man die berühmten 
Weissagerinnen, und die bekannteste darunter war Velleda. Eine Haupt¬ 
tugend der altdeutschen Häuslichkeit war die Freigebigkeit; kein Volk ehrte die 
Rechte der Gastfreundschaft höher als unsere Vorfahren. Der Fremdling, 
wer er auch war, wurde freundlich an den Tisch genommen; selbst der flüchtige 
Verbrecher fand augenblicklich Schutz am Herde. Wenn der Gast Abschied 
nahm, so empfing er als Gastgeschenk, was er nur begehrte; aber der Geber 
forderte dafür auch frei und dreist, was ihm gefiel. Nur der freie Mann 
war damals im Recht, durfte langes Haar tragen und Waffen führen; Kriegs¬ 
gefangene, oder Eingeborene, die zur Strafe eines schändlichen Verbrechens oder 
in der Leidenschaft des Würfelspiels ihre Freiheit verloren hatten, standen als 
Leibeigene in des Hausvaters Gewalt und bebauten das Land, was dem Freien 
unwürdige Beschäftigung schien. Es waren aber die Freien entweder bloß 
Freie oder Edle aus alten Geschlechtern. Nur die Freien oder Edlen traten 
zur Neumonds- oder Vollmondszeit unter den heiligen Bäumen zusammen, 
um des Volkes Wohl zu beratschlagen, Krieg zu beschließen und Recht zu 
sprechen. In Wehr und Waffen, als ging's zum Kampf, traten sie in die 
Versammlung und sprachen offen und ehrlich, jeder, wie es ihm ums Herz 
war. Wenn das Volk in Gefahr und der Ktieg beschlossen war, so wählten 
sie den Tapfersten zum Führer des Heerzuges, hoben ihn jauchzend auf den 
Schild und begrüßten ihn als Herzog; dieser ließ dann das Aufgebot zur 
allgemeinen Bewaffnung (Heerbann) ergehen. Von Hof zu Hof kündete 
es der „Heerpfeil"; die Wehrmänner scharten sich, brachen auf und holten die 
Feldzeichen, die in den heiligen Hainen aufgehoben waren; auf Wagen folgten 
ihnen die Weiber mit den Kindern. Auf dem Schlachtfelde reihten sich die 
Männer eures Geschlechts, die Gemeinden, die Gauen aneinander; hinter den 
Kriegern die Frauen auf der Wagenburg. Der Angriff begann mit wild¬ 
freudigem Kriegsgeschrei und Gesang furchtbaren Ungestüms. Der Kern war 
das Fußvolk; die Kecksten davon mischten sich unter die Reiter, hängten sich 
an die Mähnen der Rosse und stürmten so, wie im Flug, mit voran. Auch 
zu lebendigen Keilen zusammengedrängt, gingen sie gern in die Schlacht; da 
weihten sich die Vordersten dem Tode. Sonst verstanden sie in den ältesten 
Zeiten nichts von den feinen Listen der Kriegskunst; Angriff und Ringen, 
Mann gegen Mann, galt alles. Nicht die unwiderstehliche Wut beim Angriff 
allein — auch ihr Anblick selber schreckte den Feind; denn noch furchtbarer 
inachte die ohnehin riesigen Gestalten ihre Rüstung. Als Helm trugen sie die 
Schädelhaut eines Tieres, woran die Hörner und Ohren stehen geblieben 
waren, als Mantel das Fell, dazu einen langen, bemalten Schild, hinter dem 
der Mann sich bergen konnte. Der nervige Arm schwang die „Fromea" oder 
„Spathe", einer: Spieß mit glänzender Steinspitze, oder die lauge Lanze, die 
Axt, die Keule, das Messer. — Während die Männer fochten, walteten die 
Frauen in der Wagenburg, pflegten die Verwundeten, saugen den Ermatteten 
Mut ein, erdolchten die Feigen, die zurückstehen, und war alles verloren, so 
töteten sie ihre Kinder und dann sich selbst, um einer verhaßten Knechtschaft 
zu entgehen. Siegten die Deutschen, so verteilten sie ihre Beute und 
Gefangenen untereinander, dann zogen ste heim und opferten einen Teil dei: 
Göttern. — Eine andere Heerfahrt war die auf Abenteuer. Wem: einem 
Helden die Ruhe des Friedens zu lange währte, so berief er die Rüstigsten 
des Stammes, daß sie seine Waffenbrüder würden und mit ihm auszögen 
auf kecke Abenteuer, auf Sieg, Ruhm und Beute. Da schwuren sie ihm,
	        
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