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120. Z>er 19. Juli 1870. 
Zu Charlottenburg im Garten, 
In den düstern Fichtenhain, 
Tritt, gesenkt das Haupt, das greise, 
Unser teurer König ein. 
Und er steht in der Kapelle, 
Seine Seele ist voll Schmerz; 
Drin zu seiner Eltern Füßen 
Liegt das fromme Bruderherz. 
An des Vaters Sarkophage 
Lehnet König Wilhelm mild, 
Seines Vaters Auge ruhet 
Auf der Mutter Marmorbild. 
„Heute war's vor sechzig Jahren," 
Leise seine Lippe spricht, 
„Als ich sah zum letzten Male 
Meiner Mutter Angesicht! 
Heute war's vor sechzig Jahren, 
Als ihr deutsches Herze brach 
Um den Hohn des bösen Feindes, 
Um des Vaterlandes Schmach! 
Jene Schmach hast du gerochen 
Längst, mein tapfrer Vater, du, 
Aber Frankreich wirft auss neue 
Heute uns den Handschuh zu! 
Wieder sitzt ein Bonaparte 
Ränkevoll auf Frankreichs Thron, 
Und zum Kampfe zwingt uns heute 
Wieder ein Napoleon! 
Tret' ich denn zum neuen Kampfe 
Wider alte Feinde ein, 
Dann soll's mit dem alten Zeichen, 
Mit dem Kreuz von Eisen sein! 
Der Erlösung heilig Zeichen 
Leuchte vor im heil'gen Krieg, 
Und der alte Gott im Himmel 
Schenkt dem alten König Sieg! 
Blicke segnend, Mutterauge! 
Vater, sieh! dein Sohn ist hier. 
Und auch du, verklärter Bruder, 
Heute ist dein Herz bei mir!" 
Leise weht es durch die Halle — 
König Wilhelm hebt die Hand, 
All' die gold'nen Sprüche funkeln 
Sieg verheißend an der Wand. 
Zu Charlottenburg im Garten, 
Aus dem düstern Fichtenhain 
Tritt der König hoch und mächtig, 
Um sein Antlitz Sonnenschein. 
Hesektel. 
121. Z>er Krieg Deutschlands gegen Kranlrreich. 
Der Kriegsruf des drohenden Nachbars rief in allen deutschen Gauen eine 
Begeisterung für des Vaterlandes Ehre und Freiheit wach, die einzig in der 
Geschichte dasteht. Jeder Deutsche fühlte sich verletzt durch den Übermut der 
Franzosen, und niemand achtete der großen und schweren Opfer, die da 
würden gebracht werdet: müssen, sondern es folgte der Stimme des obersten 
Feldherrn mit Begeisterung, wer berufen war, den: übermütigen und sieges¬ 
gewissen Feinde entgegenzutreten. Das Feuer der anfloderi:den Begeisterung 
nabm hinweg, was hier und da an Zwist und Uneinigkeit ans deutschem Boden 
noch wuchern wollte, :n:d wir sehen die Sachsen, die Bayern, die Württem- 
berger, die Badenser im treuen Anschluß an Norddeutschland zu den Waffen 
greifen, um der Anmaßung der Franzosen mit deutscher Gründlichkeit zu be¬ 
gegnen. Auf den großen Heerstraßen nach dem Westen, dem Rheine zu, 
flutete ein feierlich erregtes Leben; aus allen Marken ergossen sich im buntesten 
Wechsel der verschiedensten Waffengattungen Tag und Nacht unabsehbare Züge 
kampsgeübter Streiter, umjubelt von Tausenden, die sich der treuen Waffen¬ 
brüderschaft des Südens und des Nordens freuten und die solche Einigkeit 
als Bürgschaft für die günstigste Entscheidung des Kriegsgeschickes betrachteten. 
Um kriegerische Tapferkeit zu belohnen, erneuerte König Wilhelm den Orden 
des eisernen Kreuzes, des Kriegers höchste Ehrenzier, und um den Verwunderen 
und Kranken hülfreichen Beistai:d zu bieten, bildeten sich allerorten Ver¬ 
einigungen von Frauen und Jungfrauen, in denen man mit geschäftigen Händen 
Verbandgegenstände fertigte und Spenden aller Art für die in: Feindesland 
kämpfenden Gatten, Söhne und Brüder ii: Bereitschaft stellte.
	        
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