249 
Kaiser wußte wohl, daß polizeiliche Maßregeln allein nicht imstande wären, 
die offenbar gewordenen Schäden gründlich zn heilen, sondern daß es vor 
allen: darauf ankomme, die religiöse Erziehung der heranwachsenden Jugend 
zu stärken und zu pflegen. Zugleich erkannte er mit klaren Blicken die 
dringende Notwendigkeit, auf den: Wege der Gesetzgebung die berechtigten 
Forderungen der sozialen Bewegungen zu befriedigen. Daher erklärte er in 
einer Botschaft an den Reichstag es für seine Pflicht, kräftige Maßregeln 
zu treffen, um die bedrängte Lage der Arbeiter zu verbessern. Und als der 
Reichstag die Erledigung der Sozialgesetze von Sitzung zu Sitzung hinauszog, 
richtete er eine neue Botschaft an denselben, :n welcher er betonte, daß er 
kein in seiner Macht stehendes Mittel versäumen wolle, um die Besserung 
der Lage der Arbeiter und den Frieden der Berufsklassen untereinander zu 
fördern, so lauge Gott ihn: Frist gebe zu wirken. 
Bald gelang es der Regierung mit den: Reichstage für die Arbeiter die 
Einrichtung einer Versicherung gegen Not durch Krankheit oder Unfälle zu 
vereinbaren, deren Kosten zum größeren Teile die Arbeitgeber, zun: kleineren 
die Arbeitnehmer zu tragen hatten. 1883 am 15. Juni kam auf dieser 
Grundlage das „Arbeiter-Krankenversicherungsgesetz", 1884 die Versicherung 
gegen die Folgen gewerblicher Unfälle, das „Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz" 
zustande. Die Unfall- und Krankenversicherung unifaßte zunächst etwa 
4 Millionen industrieller, sowie im Baugewerbe und in Beförderungs- und 
Versaudbetriebeu beschäftigter Arbeiter; später, im Jahre 1886 wurden sie 
erweitert auf die in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten 
Arbeiter, und dann wurde noch etwa 7 Millionen Arbeitern die Wohlthat 
der Versicherung zu teil. Seit 1887 erfreuen sich auch die Seeleute der 
Segnungen der Unfallversicherung. 
Gegen Not durch Erkrankung und durch Uiffälle war nun der Arbeiter 
gesichert, es blieb also noch übrig, ihn in: Alter zu versorgen, eine Alters¬ 
und Jnvaliditätsversicherung einzurichten. Die Vollendung der hierzu erforder¬ 
lichen schwierigen Vorarbeiten hat Kaiser Wilhelm noch erlebt, aber erst 
unter seinen: Enkel kan: an: 22. Juni 1889 das Juvaliditäts- und Alters¬ 
versicherungsgesetz zustande, welches an: 1. Januar 1891 in Kraft getreten ist. 
Die Invaliden- und Altersversicherung ist eine auf Gegenseitigkeit 
gegründete Versicherungsanstalt, in welcher jedoch nicht — wie bei den 
übrigen Versicherungsanstalten — die sämtlichen Kosten von den Versicherten 
(den Arbeitern) zu tragen sind, sondern höchstens ein Drittel derselben, 
während das zweite Drittel von den: Arbeitgeber, das letzte von: Reich über¬ 
nommen wird. Dabei leisten die staatlichen Behörden und die Reichspost 
noch den größten Teil der Verwaltungsarbeiten unentgeltlich, so daß die 
Geschäftsunkosten sich auf das geringste Maß berechnen. Alles nun, was 
diese unter der: günstigsten Verhältnissen wirkende Versicherungsanstalt zu 
leisten verinag, was sie einnimmt, was sie erspart, konnnt den Versicherten 
zu gute. Den deutschen Arbeitern soll hierdurch, soweit sie durch Krankheit, 
Gebrechen, Abuahine der Kräfte u. s. w. erwerbsunfähig werden, sodaß sie 
nicht nrehr ein Drittel ihres früheren Lohnes verdienen können, ii: erster 
Linie eine „Invalidenrente" gewährt werden. Denen jedoch, welche das 
Glück haben, in: 70. Jahre noch erwerbsfähig zu sein, soll unter der 
Bezeichnung „Altersrente" ein fester Zuschuß gewährt werden, der es ihnen 
ermöglicht, ihre Kräfte zu schonen und sich eine angenehme Stellung in ihren 
alten Tagen zu sichern.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.