Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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12. Die Ueujahrsnachl eines Unglücklichen. 
Ein alter Mensch stand in der Neujahrsnacht am Fenster und 
schaute verzweiflungsvoll auf zum unbeweglichen, ewig blühenden 
Himmel und wieder herab auf die stille, reine, weiße Erde, worauf 
jetzt niemand so freuden- und schlaflos war wie er. Der Kirchhof 
lag vor ihm, sein nahes Grab war bloß vom Schnee des Alters, 
nicht vom Grün der Jugend verdeckt, und er brachte nichts mit aus 
dem ganzen reichen Leben, nichts mit als Irrtümer, die Brust voll 
Gift und ein Alter voll Reue. Seine schönen Iugendtage wandten 
sich heute als Gespenster um und zogen ihn wieder vor den Hellen 
Morgen hin, wo ihn sein Vater zuerst auf den Scheideweg des Lebens 
gestellt hatte, der rechts auf der Sonnenbahn der Tugend in ein 
weites, ruhiges Land voll Licht, in die Heimat der Enge! bringt, und 
welcher links in die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine 
schwarze Höhle voll heruntertropfenden Gifts, voll zischender Schlangen 
und finsterer, schwüler Dünste. 
Ach, die Schlangen hingen um seine Brust und die Gifttropfen 
auf seiner Zunge, und er wußte nun, wo er war. 
Sinnlos und mit unaussprechlichem Grame rief er zum Himmel 
hinauf: „Gib mir meine Jugend wieder! CD Vater! stelle mich 
wieder auf den Scheideweg, damit ich anders wähle!" 
Aber sein Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er 
sah Irrlichter auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker er- 
löschen, und er sagte: „Es sind meine törichten Tage." — Er sah 
einen Stern aus dem Himmel fliehen und im Falle schimmern und 
auf der Erde zerrinnen. „Das bin ich", sagte sein blutendes Herz, 
und die Schlangenzähne der Reue gruben sich tiefer ein in seine 
Munden. 
Die Einbildungskraft zeigte ihm schleichende Nachtwandler auf 
den Dächern, und die Mindmühle hob ihre Arme drohend zum Zer¬ 
schlagen auf, und im leeren Totenhause nahm eine zurückgebliebene 
Larve allmählich seine Züge an. 
Mitten in seiner Angst floß plötzlich die Musik für das Neujahr 
vom Turme hernieder wie ferner Kirchengesang. Er wurde sanfter 
bewegt, er schaute nach dem Himmel und über die weite Erde und 
dachte an seine Jugendfreunde, die nun, besser und glücklicher als er, 
Lehrer der Erde, Väter glücklicher Kinder und gesegnete Menschen 
waren, und er sagte: „CD ! ich könnte auch, wie ihr, diese erste Nacht 
des Jahres mit trockenen Augen verschlummern, wenn ich gewollt 
hätte; ach, ich hätte glücklich sein können, ihr teuern Eltern, wenn 
ich eure Neujahrswünsche und Lehren erfüllt hätte!" 
In seinem reuevollen Andenken an seine Iünglingszeit kam es 
ihm vor, als richte sich die Larve mit seinen Zügen im Totenhause 
auf; endlich wurde sie in seiner Einbildung zu einem lebendigen
	        
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