Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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24. Trinker-Ausreden. 
Eine der Hauptursachen der Krankheiten ist die Unkenntnis des 
Volkes in gesundheitlichen Fragen. Die große Menge, ob gebildet 
oder ungebildet, lebt nach Grundsätzen und Anschauungen, die die 
Gesundheit untergraben. 
Ein Kernpunkt der Lebenskunstist die Ernährung, die richtige 
Auswahl von Speise und Trank. Über kein Gebiet aber herrschen 
so viele und so große Irrlehren wie über die Frage: Was soll der 
Mensch trinken? Wissenschaftliche Tatsachen, die tägliche Erfahrung, 
das Handgreiflichste wird auf den Kopf gestellt, um dem Genusse von 
Wein, Bier und Branntwein mit Gewissensruhe frönen zu können. 
Welche Ausreden sind es denn, womit der Trinker sein 
Gläschen beschönigt? „Ich habe Durst", sagt der eine. Und doch 
* hat er schon oft erlebt, wie er nach einem fidelen Abend, an dem er 
mit so und so viel Glas den Riesendurst bezwungen, nachts vor 
Durst erwacht und gierig nach der Wasserflasche greift. Der Alkohol, 
den er im Wein, Vier und Schnaps zu sich genommen, hat im 
Körper den Wassergehalt vermindert und sein Flüssigkeitsbedürfnis 
gesteigert. Er will sich mit Wein und Bier den Durst stillen, 
obwohl er längst erfahren hat, daß Alkohol Durst erzeugt. Wer 
würde an einem Abend 5 bis 10 Seidel Wasser trinken? Es ist 
unmöglich; denn der Durst wäre schon nach dem ersten Seidel gefüllt. 
„Ich friere, mir ist zu kalt — ich muß mich durch ein 
Gläschen wärmen", sagt ein anderer, und doch belehrt ihn das Thermo¬ 
meter, daß bei Genuß von Wein, Bier und Branntwein die Blut- 
wärme sinkt. Der Alkohol lähmt gewisse Teile des Gehirns, sodaß 
die Blutgefäße der Haut sich erweitern und eine Blutflut zur Haut 
entsteht; dies zeigt das rote Gesicht und das scheinbare Gefühl der 
Erwärmung. Diese Täuschung ist die Ursache des Erfrierens all 
jener Unglücklichen, die durch ein Schnäpschen sich Wärme zu schaffen 
versuchten; denn die Blutflut in der Körperoberfläche gibt leicht ihre 
Wärme an die kalte Umgebung ab, bis das Blut immer mehr und 
mehr sich abkühlt. Sonderegger sagt in seinem trefflichen Buche 
„Vorposten der Gesundheitspflege": „Ich wunderte mich über die 
Fuhrleute in Kasan, die zu Hunderten den Frachtverkehr besorgen, 
wie sie bei einer Kälte von 30 bis 35* C Tag und Nacht auf den 
Beinen sein können und, um von Staüon zu Staüon zu gelangen, 
stets mehrere Stunden unterwegs sein müssen. Meistens sind diese 
Fuhrleute Tataren, die mit höchst seltenen Ausnahmen genau nach 
dem Koran leben und keine geistigen Getränke genießen. Diesem 
Umstande ist meines Erachtens ihre Ausdauer, ihre körperliche 
Frische und ihre große Willenskraft zuzuschreiben." Es erfroren 
bekanntlich Karl XII. auf einem kurzen Zuge nach Gladitsch 3000 
bis 4000 Mann, die sich mit Branntwein gegen die Kälte gestärkt 
hatten. Seit langem ist den russischen Soldaten bei Wintermärsche rr
	        
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