96 Buch III. Allgemeiner Theil der politischen Geographie.
die höchste Tugend. Bei den nordisch-mongolischen Völkern dagegen
(in Sibirien) herrscht schamanisches Heidenthum. Der allmächtige
Gott existiert für sie zwar, aber tn weiter Ferne, sich um das Mensch¬
liche nicht kümmernd. Aber dafür ist die wüste, öde Natur, die sie
umgibt, von ihrer Phantasie mit dem Menschen feindlichen, dämonischen
Wesen erfüllt. Furcht ist daher der Grundzug dieser Religionen. Dieser
verzweiflungsvollen Furcht sucht man sich durch wüste Zauberei und
Beschwörungen, welche die Dämonen bannen, zu entledigen. Zauberer,
die sogenannten Schamanen, die sich durch Fasten, Einsamkeit und den
Genuß gemüthsaufregeuder Mittel in wahnsinnige, mit körperlichen
Krämpfen verbundene Verzückung versetzen, verrichten diese Beschwörungen.
Jetzt sind diese Religionen im Absterben. Gern wenden sich die Völker,
die in solchem Banne stehen, den befreienden Religionen des Buddhismus
und des Christenthums zu.
Die Religion der Negervölker, der Fetischismus, ist dem
Schamanenthum nah verwandt, aber sie überbietet dasselbe noch. Auch
hier ist der Glaube ein ein höchstes Wesen im Allgemeinen zwar vor¬
banden, aber gänzlich todt; es ist nur eine Meinung, ohne weitere
Folgen für das Leben. Neben diesem theilnahmlos geglaubten Hauptgott
treten andere mit höheren Kräften begabte Dinge auf, und diese Dinge
(Fetische), bald lebendige Thiere, bald leblose oft an und für sich ganz
unbedeutende, todte Dinge, z. B. ein Stein, sind mit der Kraft begabt
ihren Besitzer vor Unheil zu schützen. Indem man nun glaubt, durch
Zauberei solchen an und für sich todten Dingen jene höheren Kräfte
selbst beilegen zu können, setzt sich der einzelne in Besitz derselben, nicht
bloß um, wie im Schamanenthum, Böses von sich abzuwenden, in
welchem Falle sie nur den Amulcten christlichen und orientalischen Aber¬
glaubens gleichzusetzen wären, sondern um nach Belieben auch anderen
damit zu schaden und so eine Macht über die Mitmenichcn zu gewinnen.
So setzt sich in diesen Religionen, und das macht ihren teuflischen
Charakter aus, der Mensch als das höchste in der Welt. Was ihm
gelüstet, das versucht er zu können, und was er vollbringen kann, ist
sein Recht. Daher geht mit solchem Glauben Sklaverei, Despotismus,
Menschenschlächterei Hand in Hand.
Die Religionen der amerikanischen Völker sind sehr verschieden¬
artig. Bei den Polarvölkern herrschen Anklänge ans Schamanenthum.
Die Indianer Nordamerikas glauben zunächst an den „großen Geist",
den Geber alles Guten, aber dieser steht nicht im Mittelpunkt ihres
religiösen Bewußtseins, denn er vertheilt seine Wohlthaten auch ohne
Bitten und Danken der Menschen. Je mehr also dieser große Geist ut
eine dem Menschen unerreichbare Ferne zurücktritt, desto größer wird
das Bedürfnis niederer Gottheiten, die meistens als wüste Traumgebilde
einer maßlosen Phantasie erscheinen. Jeder Einzelne bat leinen Schutz-
geist, selbst in den Thieren sind göttliche Geister verkörpert; daher die
Klugheit dieser Geschöpfe, die, wie z. B. beim Biber, der des Menschen
gleich kommt. Ohne Priesterstand und geordneten Cultus sind die
Indianer dennoch in hohem Grade aottesfürchtig. Nur durch Gebei,