Der Engel.
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Knabe da saß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das
rote Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Antlitz hielt,
dann hieß es: „Ja, heute ist er ausgewesen!"
Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühlingsgrün nur da¬
durch, daß ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte,
und den hielt er über seinem Äaupte und träumte dann, unter Buchen
zu sein, wo die Sonne schien und Vögel sängen.
An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch
Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, und
deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht am Bett
an das Fenster gestellt. And die Blume war mit einer glücklichen Land
gepsianzt; sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trug jedes Jahr ihre
Blumen; sie wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein
kleiner Schatz hier auf Erden; er begoß und psiegte sie und sorgte da¬
für, daß sie jeden Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das nied¬
rige Fenster hinunterglitt, erhielt; und die Blume selbst verwuchs in
seine Träume, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und
erfreute sie das Auge; zu ihr wendete er sich im Tode, als der Herr
ihn rief.
Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume
vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt; sie wurde deshalb beim
Amziehen im Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. And dies ist
die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern
Blumenstrauß genommen haben; denn diese Blume hat mehr
Freude gewährt als die reichste Blume im Garten einer
Königin!"
„Aber woher weißt du das alles?" fragte das Kind, welches der
Engel gen Äimmel trug.
„Ich weiß es!" sagte der Engel, „denn ich war selbst der kleine
kranke Knabe, welcher auf Krücken ging; meine Blume kenne ich
wohl!"
And das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels
herrliches, frohes Antlitz hinein, und in demselben Augenblicke befanden
sie sich in Gottes Äimmel, wo Freude und Seligkeit war. And Gott
drückte das tote Kind an sein Äerz, und da bekam es Flügel wie der
andere Engel und siog Äand in Äand mit ihm; und Gott drückte alle
Blumen an sein Äerz; aber die arme verdorrte Feldblume küßte er,
und sie erhielt eine Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott
umschwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen,
und immer weiter und weiter, in das Anendliche, aber alle gleich glücklich.
Lesebuch für Vorschulen höherer Lehranstalten. Oktava. 9