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II. Praxis.
Auf diese Vorgänge bezieht sich Hebbels Mahnung. Hebbel war so
entrüstet über die Schwäche der Deutschen, daß er spottete:
Niemals wehrt sich der Esel, als deutschestes unter den Beestern
stört er niemands Genuß, selbst nicht des Wolfs, der ihn frißt.
Was würde Hebbel heute sagen! Wir warteten nicht, bis die Schuster
(welche?) Stiefel aus unserer Haut machen, sondern hauten gleich den
Gerbern eine runter. Daher unsere Kriegserklärungen.
Zur „wacht am Rhein".
Als 1870 das Lied zum deutschen Nationalliede wurde, kannte man
den Namen des Verfassers nicht. Sein Lied lebte in allen Herzen und
auf allen Lippen, er selbst war vergessen. Erst später erfuhr man, daß
das Lied schon 1840 von dem 21jährigen Max Schneckenburger, einem Würt¬
tembergischen Kaufmann, bereits im Jahre 1849 als 30jähriger gestorben,
gedichtet worden war. Der ursprüngliche Wortlaut („Die Rheinwacht") ist
im Laufe der Jahre vom singenden Volke, von den Soldaten auf dem
Marsche an einigen Stellen geändert worden, gerade wie ein Volkslied.
Wem gehörte 1840 der Rhein? (Preußen.) Ein Württemberger
setzte also schon damals die höchsten Erwartungen aus Preußen. 1840
wäre es zwischen Frankreich und Preuße:: beinahe zum Kriege gekommen.
Da dichtete Schneckenburger das Lied. 1870 wurde es Gemeingut aller
deutschen Stämme und auch heute noch wird es im Weltkrieg mit Be
geisterung gesungen.
(Heute würde der Dichter gesagt haben: „Durch Millionen zuckt
es schnell".)
In seiner bei Alfred Kröner in Leipzig erschienenen Schrift: „Die
Nationen und ihre Philosophie" vergleicht Wilhelm Wundt die National¬
lieder der kriegführenden Völker, die den Charakter der Nationen am
treuesten wiedergeben. Die Marseillaise preist Ehre und Ruhm.
„Rule Brilamiia" feiert Macht und Herrschaft. Viel bescheidener die
Wacht am Rhein. Das Lied verdankt seine Macht dem schlichten Inhalt,
wie ihn die Schlußzeile in die Worte zusammenfaßt: Fest steht und treu
die Wacht am Rhein. Festigkeit und Treue, das sind die Eigen¬
schaften, die dem Deutschen am höchsten stehen, oder, um es mit einem
einzigen Worte auszudrücken, die Pflicht. Es ist die Pflichttreue, die
der Deutsche aus dem friedlichen Beruf hinüberträgt in den Krieg, wo
sie ihm zur höchsten aller Pflichten wird, zur Pflicht der Hingabe für
das Vaterland.
Diese schöne Deutung Wundts läßt sich, des gelehrten Beiwerks
entkleidet, den Kindern wohl vermitteln. Der Text des Liedes selbst er¬
fordert sorgfältige Erläuterung.
(Zur Geschichte des Liedes vgl. Fittbogen, „Die Wacht am Rhein
und ihr Dichter", Zeitschr. f. d. deutschen Unterricht 29,9.)