Full text: Poesie für das Seminar (Teil 3, [Schülerband])

Hl Neuhochdeutsche Dichtung. I). Das 19. Jahrh. h. Zeit des Niederganges. 347 
Der Organist. 
Einsam wandelt und scheu, von ehrbaren Bürgern gemieden, 
Drüben am Kirchhofszann schwankenden Schrittes ein Greis. 
Greis? Noch dunkeln die Locken, der Bart noch wirr ihm ums Antlitz; 
Aber der zitternde Fuß trägt den Gebeugten nicht mehr. 
Grant dir nicht vor bem schmutzigen Rock, vor der schmutzigen Wäsche, 
Richt vor dem Branntweinduft, der ihn umbrodelt, so komm; 
Gehn wir mit ihm, oder besser: wir führen ihn sacht in die Kirche, 
Mit einschmeichelndem Wort sacht ihn zur Orgel empor. 
Sieh, wie sein Aug' aufglänzt! Hier saß er in glücklichen Tagen; 
Allverehrt und geliebt, lenkt' er den singenden Chor, 
Trunken von Harmonien; doch öfter leider und öfter 
Schürt' er des himmlischen Geists Flammen mit irdischen an. 
Tlls aus des Bacchus Geleite der allerabscheulichste Kobold, 
Göttern und Menschen verhaßt, Führer der Musen ihm ward. 
Längst vergangene Zeiten! Von Lastern zu Lastern gesunken, 
Schimpflich vom Amte gejagt, rings von den Leuten verfehmt, 
Hoffnungslos vom eignen Weib und den Kindern verlassen, 
Taumelt im Elend er dnmpffg die Jahre dahin. — 
Aber den Blasbalg laß uns rühren — schon gleiten die Finger- 
Träumerisch über die Reihn elfener Tasten hinweg. 
Horch, wie die Tonflut schwillt! Ans volleren, reichern Registern 
Stürmt sie gewaltigen Gangs Wogen auf Wogen hervor. 
Wohllaut wallt, ein unendliches Meer, in rhythmischen Massen, 
Schwer aufseufzend in Leid, bitterlich schluchzend heran. 
Alle Gewalten der Sehnsucht flehn, da richtet die Hoffnung 
Sich zum Fluge; das Ziel winkt, und ihr Fittich erreichtes; 
Laut aufjauchzend begrüßt sie ein hundertstimmig Triumphlied; 
Lastende Berge von Qual ringen vom Busen sich los; 
Was da verschlossen gepocht und gestöhnt und getrotzt — es erlöst sich; 
Frei in den Äther der Kunst steigt's zu den Göttern hinauf. — 
Trocknest du Tränen vom Auge? — Der Meister aber mit starrem, 
Fast zornfunkelndem Blick schweigend versinkt er in sich, 
Schweigend, die zuckende Faust anfs Herze gepreßt, gedenkt er, 
Welchen unsterblichen Kranz schmählich im Sumpf er verlor. 
175. Hieronymus Torrn. 
Deutlich Heinrich Landesmann, Israelit, geb. 1821 zu Nikolsburg, lebt in Brünn. — 
Der Grundton seiner Dichtungen ist ein tiefer und aufrichtiger Pessimismus, den chm 
allerdings niemand verdenken kann, da er mit 15 Jahren das Gehör und später auch 
last gänzlich das Augenlicht verlor. l„Gedichte", „Nachsommer".) — S. S.476 dieses Teiles. 
„Gedichte." Hamburg und Leipzig 1870. 
yie Gleichen. 
1. Des Jnderfürsten Tochter trat „Du kennst der Menschen Wert und Fehle, 
8» ihres Hofes weisem Rat: Such' mir den Freund für meine Seele!
	        
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