Dichtkunst. Beredsamkeit. 93
pöe zur Schau ausgelegten Gelehrsamkeit, hinter seinen
großen Vorgängern zurück. Gleiches Schicksal hatte Vale¬
rius Flaccus (ums Jahr 80 n. C.) mit seiner Schilde¬
rung des Argonautenzuges. Beide folgten dem Beispiele der
Alexandriner, indem sie Stoffe auö der Fabelwelt wählten,
und sie mit rednerischer Kunst und vielem Aufwande von
Gelehrsamkeit, aber ohne dichterische Talente darstellten. —
Kräftiger zeichneten die Thaten der Vergangenheit Luca¬
nus (ff 65 n. C.) in den Pharsalien, und Silius Ita¬
liens (ums I. 100 n. C.) in der Schilderung des puni-
schen Krieges, obgleich ihre dichterischen Formen mehr dem
Glanze der Redekünste, als dem einwohnenden Dichtergeiste
verdanken. Sie haben zu viel Deklamation und zu wenig
Handlung, wiewohl der erste in Charakterschilderungen und
Gleichnissen, der letzte aber in Episoden nicht ohne Erfolg
sich versuchte. — Noch weniger erreichte der Aegypter
Claudianus, der übrigens in seinem spaten Zeitalter
(395 n. C.) wirklich eine ungewöhnliche Erscheinung war,
die hohen Muster der Vergangenheit, ob er gleich denselben
durch Richtigkeit und Schönheit der Sprache sich näherte.
266.
Beredsamkeit.
Die Beredsamkeit mußte mit dem Untergange der
Freiheit Roms allmahlig ersterben; in keinem Gerichtshöfe,
vor keiner Volksversammlung ertönte fortan ihre männliche
Sprache. Nur in Leichenreden und Schulübungen durfte
man die großen Männer nachahmen, welche einst das innere
Feuer der Beredsamkeit auf die Tribune geführt, und das
römische Volk zu unvergänglichen Thaten begeistert hatte.
In den Schulen der Redner las man ihre Meisterstücke,
und suchte sie nothdürftig nachzuahmen; allein die große
Zeit war unwiederbringlich dahin, die solche Kräfte geweckt
hatte. — Ein Meisterstück des spätern rhetorischen Ge¬
schmacks in Rom, zusammengesetzt nach allen Regeln der
Kunst, aber nicht frei von dem Kolorit dieses Zeitalters, ist
der P a n c g y r i c u s des j ü n g e r n P l i n i u s auf d e n
Trajan (ums I. 107 n. C.). Der Zögling des Quincti-