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II. Kulturbilder aus Welt und Werkstatt.
111. Sturmfluten an der Nordsee.
Niemand kann mit so stolzem Selbstgefühl den Boden der Heimat besitzen,
als der Bewohner der Marschen, der ihn zum Teil geschaffen und mühevoll
errungen hat, der ihn jahraus jahrein mit ungeheurer Kraft und Aus¬
dauer behaupten und verteidigen muß gegen die wilden, ewig nagenden, ewig
wühlenden und spülenden Fluten.
Die gesegneten Fluren, die er bewohnt, die mächtige grüne Ebene
mit ihren buschreichen Dörfern, mit Turmspitzen und stattlichen Bauerge¬
höften mit Saatfeldern und Viehscharen, mit Rädergerassel und Sensen¬
klang, mit Taubengeflatter und Lerchengeschwirr, waren einst nichts anderes,
als ein weites sumpfiges Rohrfeld oder gar öde, kahle Matten ohne alle
Vegetation und sie würde sofort wieder in den alten wüsten Zustand über¬
gehen, wenn einmal die Deiche verschwänden.
In diesen, die sich gleich mächtigen Festungswällen in der ganzen
Länge der Marschen schützend vor ihnen herziehen, sehen wir die erste aller
Bedingungen des Daseins jener reichen, blühenden Ufergebiete; von ihrer
Erhaltung hängt das Wohl und Weh vieler Tausende, ja die Epistenz
ganzer Landstriche ab.
Um aber ganz die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Deiche zu
begreifen, muß man einmal eine gewaltige Sturmflut mit angesehen haben;
denn wer ein solches Ereignis nie erlebte, wird sich schwerlich von seiner
Größe und Schnelligkeit eine Vorstellung machen können. Die rechte Zeit
der Sturmfluten ist vom Oktober bis zum April.
Wenn eine zeitlang ein anhaltender Westwind weht, der große Wasser¬
massen in den Kanal lvon Calais) treibt, und diese nun, sich nach Nord¬
osten oder Norden umsetzend, gegen die Küsten und weit in die Flüsse hinauf¬
peitscht, wodurch die Ebbe sehr aufgehalten oder fast ganz gehemmt wird,
wenn sich dazu noch eine Springflut gesellt, dann steigen die wilden Wasser
oft zu einer Höhe und Furchtbarkeit, die einem das Herz erbeben machen.
Aber ruhig erwartet sie der Marschbewohner, weiß er doch, daß seine
Deiche hoch und stark genug sind, ihm sichern Schutz zu gewähren. Höchstens
mag ihm ein trüber Gedanke an die Mühen und Kosten der Deicharbeil
kommen, die wenige Stunden herbeiführen können.
So steht er unbekümmert um den heulenden Sturm auf der Kappe
des Deichs und schaut in erstem Sinnen auf die wellenden Fluten, von
denen er genau weiß, wann sie den Deich heranströmen werden.
Noch ist das Vorland trocken, noch sind die Fluten in ihrem Bette;
doch man sieht schon, wie sie toben, wie sie sich bäumen und die weißen
Zähne zeigen, als harrten sie voll Ungeduld der Stunde, da eine höhere
Macht ihnen das Zeichen zum Angriffe giebt.
Jetzt nahen sie. Lauter wird das Brausen und Donnern. Sie
erreichen das Vorland, in kurzer Zeit ist es bedeckt und beut nun,
so weit das Auge reicht, nur eine einzige wilde Wasserwüste, deren
Schaumkämme blendend weiß gegen das trübe Grau der Wogen ab¬
stechen. Kein Schiff ist weit und breit zu erspähen; alle sind sie vor