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II. Kulturbilder aus Welt und Werkstatt.
Portugal treiben konnte. Im 14. und 15. Jahrhundert entstanden jene
Meisterwerke der Baukunst, jene Kirchen, Paläste und öffentlichen Gebäude,
welche noch jetzt die Bewunderung aller Fremden erregen, so daß man
staunend fragt, wie in so kurzer Zeit, mitten unter Volksaufständen,
inneren und äußeren Verwickelungen, eine einzelne Handelsstadt so gro߬
artige Resultate freien Handels und bürgerlicher Unabhängigkeit erzielen
konnte. Auch in Dichtkunst, Musik, Malerei und wissenschaftlichen Leistungen
hielt die Stadt gleichen Schritt mit Italien und versah England und
Frankreich mit einer Reihe ausgezeichneter Männer, welche die Günstlinge
der Höfe wurden und ein neues Zeitalter in der Pflege und allgemeiner
Verbreitung der Wissenschaften ins Leben riefen. Nicht minder erlangte
Antwerpen in Bezug auf mechanische Künste und verschiedene Zweige des
Gewerbes eine schnelle und wohlverdiente Berühmtheit, so daß Fremde
aus weit entlegenen Ländern kamen, um sich mit dem Verfahren des
Diamantschleifens, der Glasmalerei, der Verfertigung der Glockenspiele,
der Spitzen- und Teppichweberei, der Schönfärberei bekannt zu machen,
während am Schluffe des 15. Jahrhunderts die Entdeckung Amerikas und
der Verfall mehrerer großen Städte Italiens dem Antwerpener Handel
einen neuen Schwung geben.
In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts hatte Antwerpen
200 000 Einwohner (darunter 350 Maler, 300 Silberarbeiter und
Juweliere) und war die größte Manufakturstadt in Europa, sowie der
Hauptmarkt für die Hansastädte und die italienischen Republiken. Die
hiesigen Kaufleute waren besonders durch ihre auswärtigen Verbindungen
berühmt. Sie erhielten vor der Entdeckung des Weges um das Vorgebirge
der guten Hoffnung die Produkte Ostindiens über das rote Meer, Ägypten
und Alexandria durch Schiffe, die sie für eigene Rechnung in Genua und
Venedig ausrüsten ließen. Zur Zeit Karl's V. war der Hafen oft so
mit Schiffen angefüllt, daß neu ankommende Handelsflotten vorläufig in
die Schelde einlaufen mußten, ehe sie zum Ausladen ihrer Waren gelangen
konnten.
Die Kathedrale von Antwerpen gehört unter die großartigsten Denk¬
mäler der Baukunst, welche Europa aufzuweisen hat. Der Eindruck des
Äußeren wird durch die nach allen Seiten freie Lage derselben ungemein
erhöht. Freilich ist auch diese späte Schöpfung des Mittelalters nicht ganz
vollendet; denn der Mensch hat von jeher bei Bildung eines Planes das
Maß seiner Kräfte nicht genugsam erwogen. Aber was hier vollbracht
ward, ist so vollkommen in seiner Art, daß alle Verhältnisse des gesamten
Gebäudes in vollkommener Harmonie zu einander stehen, ungeachtet der
zahllosen in Stein gehauenen Verzierungen, welche Kirche und Turm von
oben bis unten beleben. Dieser eine vollendete von den beiden projektierten
Türmen ist gar stattlich ausgeführt und wetteifert an Höhe mit dem Stra߬
burger im strengsten Sinne des Worts; denn bei verschiedenen Messungen
ist bald der eine, bald der andere etwas höher angegeben. Groß und
erhaben ist das Innere der in ihrer ehemaligen Pracht wieder hergestellten
Kirche, der einzigen in Europa, die 7 Schiffe zählt. Die Zahl der Kunst¬