Full text: Lesebuch zur deutschen Staatskunde (Nr. 48)

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6. Volksvertretung 
Das Volk wird durch die Volksvertretung vertreten. 
Die Rechtsordnung kennt nun auf allen Rechtsgebieten 
eine doppelte Art der Vertretung, die auftragsmäßige, bei 
der der Vertretene seinen Willen in den des Vertreters legt, 
und die gesetzliche für einen Handlungsunfähigen. Welcher 
Art ist nun die Volksvertretung? Politik und Zeitungsdeutsch, 
die von einem Mandate, Rechenschaftsberichte an die Wähler 
usw. sprechen, deuten auf die auftragsmäßige Vertretung 
hin. Und doch kann von einer solchen nicht die Rede sein. Die 
Mitglieder der Ersten Kammern, die der politische Radikalis¬ 
mus freilich als grundsatzwidrig beseitigen will, werden regel¬ 
mäßig nicht gewählt. Und wenn die Zweite Kammer auch 
eine Wahlkammer ist, so werden die Abgeordneten doch nur 
durch einen geringen Prozentsatz des Volkes gewählt. Jedem 
Zweifel macht aber ein Ende die stereotype Bestimmung der 
Verfassungsurkunden, u. a. Art. 83 der preußischen: „Die 
Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen 
Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Überzeugung und 
sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden." Da¬ 
mit ist der Grundsatz der gesetzlichen Vertretung für das 
an sich handlungsunfähige Volk ausgesprochen. Aus dem 
Wesen der Volksvertretung ergibt sich daher nichts für die 
Art und Weise ihrer Zusammensetzung. Auch die erblichen 
Mitglieder der Ersten Kammer sind Vertreter des ganzen 
Volks. Und die Wähler erteilen nicht einen Auftrag, sondern 
versehen einen öffentlichen Dienst, indem sie mitwirken bei 
Bezeichnung der Personen, die in der Zweiten Kammer das 
Volk zu vertreten haben. 
Das Volk ist nun gleichzeitig Gegenstand und Mittel der 
staatlichen Herrschaft. In beiden Beziehungen wird es durch 
die Volksvertretung vertreten. Als Gegenstand der Herr¬ 
schaft vertritt es die Volksvertretung, indem sie namens des 
Volkes Bitten und Beschwerden gegenüber der Regie¬ 
rung geltend macht. Als Mittel der Herrschaft vertritt sie 
das Volk, indem sie mitzuwirken berufen ist beim Erlasse 
der wichtigsten Staatsakte. Doch überwiegt bei der Volks¬ 
vertretung die letztere Richtung bei weitem die erstere. 
Von allen anderen Staatsorganen unterscheidet sich nun die 
Volksvertretung durch zwei wesentliche Eigenschaften, durch 
ihre Unverantwortlichkeit und durch ihre Unselbständigkeit. 
Die Volksvertretung ist rechtlich unverantwortlich. Sie 
trügt allerdings für ihre Beschlüsse eine Verantwortung poli-
	        
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