Die Gerichtsverfassung
83
2. Die Stellung und Vorbildung der Richter.
„Die richterliche Gewalt wird durch u n a b h ä n- 218
g i g e, n u r demGesetze unterworfene Gerichte au s-
g e ü b t." Dieser Satz, mit welchem das die Verfassung der Gerichte
im ganzen Reich einheitlich regelnde Gerichtsverfassungs¬
gesetz beginnt, enthält eine der wichtigsten Errungenschaften unseres
Volkes; denn die Unabhängigkeit der Gerichte nach oben
wie nach unten bildet zu allen Zeiten den besten Schutz der Staats¬
bürger und ihrer Rechte.
Gegenüber der Regierung ist die Unabhängigkeit der Richter 219
dadurch sichergestellt, daß ihre Ernennung (durch den Landesherrn,
beim Reichsgericht durch den Kaiser) aus Lebenszeit erfolgt. Sie
können wider ihren Willen weder versetzt noch ihres Amtes enthoben,
noch in den Ruhestand versetzt werden, es sei denn, daß Verände¬
rungen in der Organisation der Gerichte oder der Gerichtsbezirke
eine solche Maßregel erfordert oder daß durch richterliche Entschei¬
dung aus gesetzlichen Gründen (insbesondere im Disziplinarverfahren
wegen schwerer Verfehlungen, s. Nr. 115, 204 und 209) darauf erkannt
wird. Eine Gewähr für die Unparteilichkeit und Gründlichkeit der
Rechtsprechung liegt ferner darin, daß jede Rechtssache in der Regel
nach einander vor verschiedene, einander übergeordnete Gerichte (In¬
stanzen) gebracht werden kann, und daß die Gerichtsverhandlungen,
welche der Urteilsfällung vorangehen, öffentlich sind. Die Oessentlich-
keit kann nur ausgeschlossen werden, wenn sie mit Rücksicht auf die
besondere Natur des einzelnen Falles eine Gefährdung der Sittlichkeit
oder der öffentlichen Ordnung besorgen ließe.
Die D i e n st auf sicht über die Gerichte wird durch die 220
Justizministerien der verschiedenen Bundesstaaten geübt. Aber auch
diese obersten Justizverwaltungsbehörden müssen sich jedes Eingriffs
in die eigentliche richterliche Tätigkeit der Gerichte enthalten. Selbst
den Landesherrn steht ein solcher Eingriff („K a b i n e t t s j u st i z")
nicht zu; sie können zwar bereits ausgesprochene Strafen im Gna¬
denwege erlassen, nicht aber besitzen sie (wenigstens nicht in Preußen,
Bayern und Baden) das Recht, ein anhängiges Strafverfahren zu¬
gunsten des Angeklagten vor dem Urteil niederzuschlagen („A b 0 -
l i t i 0 n s r e ch t"). Die Dienstaussicht über das Reichsgericht steht
dem Reichskanzler oder in dessen Vertretung dem Reichsjustizamt zu
Berlin zu.
Die F ä h i g k e i t zum R i ch t e r a m t wird durch Ablegung 221
zweier Prüfungen erlangt? Der ersten dieser Prüfungen muß im
6*
2 Für Preußen s. Näheres oben Nr. 204.