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Trennung von Staat und Kirche
höheren Organismus, dessen Glieder sie sind, rechtlich bestim¬
mend ergriffen werden. Die Aufgabe könne also keine andere
sein, als Ermittelungen des Mindestmaßes der an sich unvermeid¬
lichen Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Kirche im ganzen
und in einzelnen Gliedern. definiert das
Recht der Trennung von Staat und Kirche als die Überlassung
der Organisation der Kirche in jeder Beziehung dem freien
willen der Anhänger eines Bekenntnisses. Die Art und weise,
wie sich diese als kirchenrechtlichen Verband einrichten wollen,
ist ihnen freigestellt. Soweit sie Rechtsverhältnisse begründen
wollen, die auch von staatlichen Mächten als wirksam anerkannt
werden, benutzen sie die Institutionen des j)rivatrechtes, die in
einzelnen Ländern verschieden sein können (Gemeines Recht,
besonderes Vereinsrecht, Stiftungsrecht). Je nachdem man nun
den einen oder den anderen Begriff zugrunde legt, kommt man
zu dem Ergebnis, daß dieser oder jener Staat und warum er
keine oder welche Annäherung von Staat und Kirche kennt.
Voran gingen, nachdem die Forderung der Trennung von Staat
und Kirche von dem religiösen Individualismus des \7. Jahr¬
hunderts in England und Nordamerika erhoben worden war,
die Vereinigten Staaten, ohne daß dabei die Kirche Schaden ge¬
litten hätte — im Gegenteil, weiter kommen in Frage Kanada,
die britischen Kolonien, Australien und Neuseeland, die Kap-
Kolonien, Mexiko, Brasilien, Kuba, Ekuador, Irland und Genf.
In Italien, Belgien und Holland finden sich viele grundsatz¬
widrige Durchbrechungen des Systems. Den zurzeit die Geister am
meisten beschäftigenden Fall bildet Frankreich. Dort ist durch das
Gesetz vom 9. Dezember (905 die Trennung erfolgt. Es trifft
zwar sämtliche Glaubensgesellschaften Frankreichs, ist aber beim
Überwiegen des katholischen Bekenntnisses tatsächlich gegen die
katholische Kirche gerichtet^. Die Grundsätze dieses Gesetzes gehen
dahin: Die Republik sichert die Gewissensfreiheit; sie gewähr¬
leistet die freie Ausübung der Kulte unter gewissen, im Inter¬
esse der öffentlichen Ordnung gesetzlich festgelegten Beschrän¬
kungen; sie anerkennt, besoldet oder unterstützt keinen Kult;
* Die Trennung von Staat und Kirche, ^yos.
2 Geigel, Trennung von Staat und Kirche in Frankreich, 1,908. —
Friedrich, Die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich, 1,907,
und weitere Literatur bei Stier-Sornlo, Jahrbuch des Verwaltungs¬
rechts, Bd. z, s. bS8, Bd. 4, s. 538, Bd. 5, 5. 647ff., Bd. 6, s. öisff.