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seinem Sitze auf, ihm entgegenzugehen. Freundlich grüßend hieß
er ihn und alle seine Helden willkommen: „Seid mir willkommen,
Herr Günther nebst euern Brüdern Gernot und Giselher. Auch
euch, ihr edeln Recken, Volker und Hagen, samt eurem ganzen
Heergesinde, heiße ich in meinem und in der Königin Kriemhild
Namen willkommen." In höflicher Weise erwiderte Hagen: „Hättet
ihr, edler König, nicht nach meinen Herren gesandt, ich wäre euch
zu Ehren allein in euer Land geritten." Nun nahm der König
seine Gäste bei der Hand und führte sie hin zu seinem Sitze. Dann
ward in goldenen Schalen Wein, Met und Moraß herumgereicht,
den Gästen zur Erquickung.
Selten noch waren Gäste in Etzels Burg mit so großen Ehren
empfangen worden, als die waren, die man den Burgunden er¬
wies. Und als es bald nach dem Empfange zu Tische ging, wurden
köstliche Speisen und Getränke in Menge aufgetragen, und was
die Burgunden nur wünschen mochten, das wurde ihnen alles gern
gewährt.
Es war aber am Abend vor der Sonnenwende, als die Bur¬
gunden an Etzels Hofe angekommen waren.
XXX. Der Tag ging zu Ende, und die reisemüden Helden
sehnten sich nach Ruhe. Darum sprach Günther zu dem königlichen
Wirte: „Behüte euch Gott! wir wollen jetzt schlafen gehen."
Da entließ Etzel seine Gäste freundlich, und diese wurden in einen
weiten Saal geführt; in dem standen viele prächtige Betten. Die
Decken aber, mit denen sich die Helden decken sollten, waren von
Hermelin und von schwarzem Zobelpelz und alles war mit köst¬
lichen Borten eingefaßt. Noch nie war einem Könige mit seinem
Gesinde herrlicheres Lager bereitet worden.
Wie einladend und schön aber auch alles war, der junge
Giselher brach doch in Klagen aus und sprach: „Wehe uns dieser
Nachtruhe! Ich fürchte, daß große Gefahr uns droht und daß von
unserer Schwester, wie freundlich sie uns auch empfangen hat, unser
Tod beschlossen ist." Hagen aber erwiderte: „Nun laßt eure
Sorgen! Ich will heute Nacht selbst Schildwache sein und gedenke
euch wohl zu behüten, bis der Tag kommt." Das hörten die Helden
gern und dankend verneigten sie sich vor ihm. Dann gingen sie
zu den Betten, Hagen aber begann, sich zu waffnen.
Da sprach Volker zu ihm? „Verschmähet ihr es nicht, Herr Ha¬
gen, so will ich in dieser Nacht mit euch wachen." — „Das lohn'
euch Gott!" antwortete Hagen, „mit Freuden nehme ich eure Gesell¬
schaft an, denn keine könnte mir lieber sein, als die eure." Als¬
bald kleideten sich die beiden Helden in ihre Panzer, nahmen den
Schild zur Hand und gingen hinaus vor die Thüre des Hauses,