206
ich dich nur erst hier habe!" Er blieb ruhig in seiner Stellung liegen
und tat, als ob er nichts gehört hätte. „Du da, bist du nicht der
Bruder von unserm Phplax?" rief das Hähnchen noch ein paarmal mit
lauterer Stimme. „Ach, sieh da, liebster Gockelmann!" sprach endlich
5 der Schlaue und richtete den Kopf in die Höhe, „wie bin ich froh, daß
ich dich einmal zu sehen bekomme, du lieber, kleiner Kerl! Allerdings
bin ich der Bruder von Phplax, und der hat mir soviel Schönes von
dir und deinem Bruder Hähnel erzählt. Ihr sollt ja beide prächtig
krähen können, du glaubst nicht, wie gern ich das anhöre. Leider bin
10 ich jetzt erkältet, und die Erkältung hat sich mir auf die Ohren geworfen,
so daß ich schwer in der Ferne höre. Du würdest mir eine große
Freude machen, wenn du über den Zaun zu mir herunterstiegen möchtest
und mir so recht in der Nähe etwas vorkrähtest!"
„Ich kann ja nicht zu dir kommen," sprach Gockelmann ganz
15 traurig. Er fühlte sich so sehr geschmeichelt von dem Lobe des Fuchses.
„Ach, wie schade!" sprach Meister Reineke, „ich wollte dich auch noch
um eine andere Gefälligkeit bitten. Der Doktor hat mir geraten, ich
soll wegen meiner Taubheit frische, lebendige Regenwürmer auf die
Ohren legen, da bin ich nun hergekommen, um mir welche zu holen,
20 und kann sie nicht gut mit meiner Schnauze fassen. Ja, wer deinen
Schnabel hätte!" „Regenwürmer, fette Regenwürmer? Sind denn
wirklich welche da?" fragte Gockelmann eifrig. „Ach, und was für
welche!" sprach der Fuchs, „Kerle, wie die Aale so fett, das kribbelt
und wibbelt davon hier unten beim Wasser. Nie in meinem Leben
25 sah ich solche Menge beisammen."
Wie das der Gockelmann hörte, konnte er sich nicht halten, er hob
die Flügel, um über den Zaun zum Fuchse hinunter zu fliegen. Sein
liebstes Essen von der Welt waren ja fette Regenwürmer. — Aber
vergebens! Gerade gestern hatte die Köchin ihm die Flügel beschnitten,
30 damit er eben nicht überall hinfliegen könne. So ward es ihm un¬
möglich, hinunterzuslattern. Er klagte dem Fuchse sein Leid. Dieser
wollte ihm auch eben einen guten Rat geben, wie er trotzdem aus dem
Garten heraus zu ihm kommen könnte, da ließen sich aber in der Nähe
Menschenstimmen hören. Der Fuchs hatte gerade noch Zeit, dem leicht-
35 gläubigen Gockelmann zuzurufen: „Komm morgen wieder, du Herzens-
Gockelmann, und bring doch auch ja deinen lieben Bruder Hähnel mit!
Dann wollen wir mehr miteinander sprechen, hörst du?" Daraus
streckte er den Schwanz hoch in die Luft und lief, was er nur konnte,
ins Feld hinein.
10 Traurig ging Gockelmann nach seinem Hose. Fortwährend dachte
er an das leckere Frühstück, wovon der Fuchs ihm gesagt hatte. Daheim
angelangt, erzählte er nun seinen Eltern, was ihm begegnet war. Nach
seinen Worten konnten die alten Hühner auch nicht anders denken, als