Full text: Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte

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IV. 1840—1900. 
Disziplin der Partei ungeschädigt war, und die gewählten Reichs¬ 
tagsabgeordneten hielten die Leitung trotz gelegentlichen Widerspruchs 
in festen Händen. Der Versuch, die Arbeiter für einen Staats¬ 
sozialismus zu gewinnen, scheiterte völlig, und die von Stöcker in 
Berlin wenige Monate vor den Attentaten gegründete christlich- 
soziale Partei, die sich auf den Boden der Monarchie und der 
bürgerlichen Ordnung stellte, gelangte bei dem ans politischem Ge¬ 
biete so zweifelhaften Charakter ihres Führers, dem es mehr um 
kirchliche Orthodoxie und Hierarchie als um soziale Wundenheilung 
und Versöhnung zu tun war, zu keinem Ansehen und keiner Macht. 
Selbst das größte Ereignis ans dem Gebiet der innern Politik, die 
mit der kaiserlichen Botschaft vom 17/11. 1881 eröffnete soziale 
Gesetzgebung, welche den Organismus des Staats und die Steuer¬ 
kraft des deutschen Volkes zur Heilung der sozialen Schäden und 
Gebrechen aufbot, ging vorerst spurlos an den Arbeitermassen vor¬ 
über, entzog sie nicht dem Zauber des sozialistischen Programms 
und dämpfte nicht das Feuer des in ihnen entflammten Klasscn- 
hasses. Wohl forderte der Rest des Lassalleschen Allgemeinen 
deutschen Arbeitervereins in Hamburg am 22/11. 1881 zu einer 
Unterstützung der kaiserlichen Sozialpolitik auf, aber ohne allen 
Erfolg. Sein Organ, das „Hamburg-Altonaer Volksblatt", mußte 
sogar 1882 eingehen. Der revolutionäre Drang in der Sozial¬ 
demokratie nahm vielmehr zu, angestachelt durch die aus England 
massenhaft eingeschmuggelte Mostsche „Freiheit", welche die 
Propaganda der Tat mit Dolch und Dynamit forderte. Es kam 
zu dem furchtbaren Attentatsversuch Neinsdorffs, der gegen den 
Kaiser und die deutsche Fürstenschaft bei der Enthüllung des National¬ 
denkmals auf dem Niederwald (1883) gerichtet war, und zur Er¬ 
mordung des Polizeirats Rumpff in Frankfurt a/M. (13U. 1885), 
der sich um die Ermittelung jenes Attentats Verdienste erworben 
hatte. Wohl hatten die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, 
welche theoretisch auf dem Boden des Marxschen Evolutionismus 
standen und den naturnotwendigen Ruin, dem die Gesellschaft durch 
ihren Kapitalismus entgegengehe, durch revolutionäre Gewalttaten 
nur verzögert zu sehen glaubten, solchen unzeitigen Sturm und 
Drang hintanzuhalten gesucht und sich auf dem Kongreß zu Kopen¬ 
hagen (1883) von den Sozialrevolutionären losgesagt. Aber als
	        
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