I. Die psychischen und physiologischen Eigentümlichkeiten deS Kindes. 7
straktionskraft. Sie setzen oft Vergleiche voraus, die erst später geläufig
werden. Doch verfügt das schulpflichtigwerdende Kind bereits über einen
ansehnlichen Besitz adjektiver Begriffe. Abstrakta und abstrakte Adjektiva
liegen ihm jedoch zumeist noch recht fern. Dre Namen der Farben, auch
nur der Hauptfarben, sind erwiesenermaßen den Jncipienten kaum alle ge¬
läufig. Religiöse Begriffe dogmatischer Art sind noch nicht vorhanden und
die sittlichen Werturteile beschränken sich auf die elementarsten Formen.
Demgemäß fehlen auch die diese Begriffe deckenden Wörter. Mit
diesen Tatsachen wird ein naturgemäßer Lehrplan unbedingt rechnen
müssen und Stoffe ausschalten, welche das Vorhandensein dieser Begriffe
voraussetzen.
Natürlich und selbstverständlich setzt sich der Vorstellungskreis des Kindes
aus den Elementen seiner Umgebung zusammen. Die Nächstliegenden, sinnen¬
fälligsten Gegenstände, die der häufigsten Betrachtung ausgesetzt sind, wie
Dinge aus Haus. Hos, Garten, Straße, Feld und Wald sind das Stamm¬
kapital des Vorstellungsschatzes.
Wenn auch die Klarheit der Vorstellungen vielfach zu wünschen übrig
läßt und die einzelnen Kinder manche Verschiedenheit ihres geistigen Be¬
sitzes ausweisen, wird der erste Unterricht hier viel voraussetzen können, so¬
fern der Lehrplan einen durchaus heimatlichen Charakter hat.
Einen wesentlichen Einfluß auf die Klarheit der Vorstellungen üben
neben der Größe die Farben der Dinge aus. Je kräftiger dieselben, desto
deutlicher die Erinnerungsbilder. Ganz naturgemäß ist es ferner, wenn
Vorstellungen von fernerliegenden und demzufolge nur seltener in den Ge¬
sichtskreis der Kinder tretenden Gegenständen nicht in gewünschter Klarheit
und Allgemeinheit vorhanden sind. Häufig jedoch verfügt das Kind wohl
über die Vorstellung und nur ihr Name ist ihm unbekannt geblieben oder
wieder verloren gegangen.
Trotz dieser allgemeingültigen Tatsache werden die Jncipienten einer
Klasse große Verschiedenheiten in ihrem Vorstellungs- und Sprachschatze aus¬
weisen. Da sie aber alle desselben Unterrichts teilhaftig werden, müssen
zum Gelingen doch annähernd dieselben Apperzeptionshilfen bei allen vor¬
handen fein, resp. erzeugt werden. Hier liegt der wesentlichste Unterschied
zwischen dem Unterrichtsbetriebe der Elementarklasse und der höheren Klassen.
Während diese die Voraussetzungen in der Hauptsache im Lehrplane der vorigen
Klasse finden, müssen sie für jene erst festgestellt oder geschaffen werden.
Die „Analyse des kindlichen Gedankenkreises" nach dem Annaberger Muster
wird in dieser Hinsicht viel zur Klärung beitragen, erschöpfend und unfehlbar
ist sie jedoch nicht. Es wird Aufgabe des Lehrers sein, im Verlaufe des
ganzen Schuljahres den mitgebrachten und selbsterworbenen Vorstellungs¬
und Sprachschatz sorgfältig zu erforschen und aus vieljähriger Arbeit zu¬
verlässiges Material anzusammeln.
Außer der Beachtung dieser psychischen Dispositionen bedarf es noch
einer Untersuchung der physiologischen Eigentümlichkeiten der Jn¬
cipienten. Die zarte Konstitution des Körpers und seiner Organe erfordert
eingehende Berücksichtigung. Es ist grundfalsch, Kinder als Erwachsene im
kleinen zu betrachten. Die Zusammensetzung des Gehirns, der Nervenmasse,