Erneuerung der Architektur. Moderne Bauaufgaben. 151
kunst“ und seine „Steine von Venedig“ schrieb, wo man das anspruchs⸗
lose Landhaus ohne jeden sogenannten Schmuck, nur aus den jewei—
ligen CLebensnotwendigkeiten heraus, zu bauen begonnen hatte. Da
lernte man auch für die Architektur den Grundsatz verstehen, daß Schön—
heit nicht im Schmucke der Fassade liege, sondern in dem künstlerisch
gestalteten Aufbau des aus den praktischen Bedürfnissen herausgewach—
senen Raumes oder der wohldurchdachten aneinandergereihten Räum—
lichkeiten, und daß bei solchem Aufbau die weitestgehende Ehrlichkeit
dem Baustoffe gegenüber gepflegt werden solle. Aber nicht Ruskins CLeh—
ren und Englands Landhäuser allein hatten die Baukunst sich auf sich
besinnen lassen, sondern die Bereicherung der üblichen Baustoffe durch
einen wichtigen Neuling, das Eisen. Ja, mit dem Eisen mag in
Deutschland sogar noch vor Ruskins Ruf, wenngleich nur vereinzelt,
der Gedanke an den Wert von Material und Bauzweck gekommen sein,
und manches halfen dabei auch die großen Forderungen der neuen
Zeit: Bahnhofshallen, Ausstellungsgebäude und Warenhäuser stellten
ganz neue Ansprüche an Baukonstruktion und Raumschaffen, und wir
Zuschauer fingen nach und nach an, unsere gelehrten Begriffe von
historischer Stilschönheit über Bord zu werfen und neue Anschauungen
über die Schönheit in der Baukunst aufzunehmen.
Industrie und Kunst haben sich ineinander gefunden. Bauherr und
Baukünstler haben sich verstanden. Schon sehen wir Beispiele solchen
Verstehens in Stein und Eisen verkörpert vor uns stehen. Alfred Messels
Wertheim-Haus in Berlin ist eine der ersten großen Lösungen einer
solchen neuzeitlichen Bauaufgabe. Die Entwicklung des Raumes im
Dienste der Aufgabe, das Sichlosreißen von jenem Schema, das bis—
her nur Palastfassaden hat entstehen lassen, die Verwendung von Glas
und Eisen und wieder das Sichbeschränken im Schmuck, in der Verwen—
dung überkommener Formen, dies alles findet sich zusammen zu einem
echt künstlerischen, in gutem Sinne „modernen“ Bauwerk. Es spricht
eine ebenso deutlich-schöne Sprache wie etwa in seiner Weise das Münster
zu Straßburg. Wohl ist die Sprache des Straßburger Münsters weit
gewaltiger, weil in ihm eine ganze Kultur gelebt und gewebt hat,
während im Messel-Bau doch nur ein kleiner Teil unserer buntgewür—
felten Kultur verkörpert ist — aber findet ebendieser kleine Teil in
ebendiesem hause nicht den Ausdruck, dessen er bedarf, um überhaupt
Gestalt zu gewinnen?